Wisdom in practice

Wisdom in practice

Der Hohe Priester fragte nun: Verhält es sich so? Er aber sprach: Brüder und Väter, hört! Der Gott der Herrlichkeit ist unserem Vater Abraham erschienen, als dieser noch in Mesopotamien lebte, bevor er sich in Haran niederliess. Und er hat zu ihm gesagt: Zieh weg aus deiner Heimat und fort von deiner Verwandtschaft, und geh in das Land, das ich dir zeigen werde. Da zog er weg aus dem Land der Kasdäer und liess sich in Haran nieder. Als sein Vater gestorben war, wies er ihn an, von dort weiterzuziehen in das Land, in dem ihr jetzt wohnt. Und er gab ihm kein Erbteil daran, nicht einmal einen Fuss breit, doch er verhiess, es ihm und nach ihm seinen Nachkommen zum Besitz zu geben – dabei war er doch kinderlos. Gott aber sprach so: Seine Nachkommen werden Fremdlinge sein in fremdem Land, und man wird sie zu Sklaven machen und misshandeln vierhundert Jahre lang. Aber das Volk, dem sie als Sklaven dienen, werde ich richten, so sprach Gott, und danach werden sie ausziehen und mich verehren an diesem Ort. Und er gab ihm den Bund der Beschneidung. So zeugte er den Isaak und beschnitt ihn am achten Tag, und Isaak beschnitt den Jakob, und Jakob die zwölf Patriarchen. Apg 7,1-8

Die Gegenwart Gottes ist eine geheimnisvolle Sache. Wie könnte ich sie erkennen? Sobald ich den Moment erkenne, ist er vorbei, sobald ich mir bewusst bin, dass Gott gegenwärtig ist, ist diese Gegenwart bereits Vergangenheit. Gott lässt sich bloss von hinten erkennen. Ich kann das Echo des Moments vernehmen und die Spuren seiner Berührung wahrnehmen, doch fassen kann ich den Moment nicht. Deshalb bleibt Gottes Gegenwart ein Geheimnis. Wissenschaftlicher Beobachtung ist sie stets entzogen. Es gibt keine Synchronizität zwischen dem Beobachteten und dem Beobachten. Das Geheimnis der Zeit ist auch das Geheimnis Gottes.

Allerdings findet alles Leben und Tun in der Gegenwart statt. Zwar bin ich von meiner Vergangenheit bedingt. Was ich heute bin, ist das Ergebnis meiner Geschichte. Ebenso bedingt mich meine Zukunft. Ständig bin ich damit beschäftigt, mich auf das auszurichten, was ich erwarte. Meine vergangene und zukünftige Geschichte macht mich zu dem, der ich bin, doch in meinem Wesen bin ich derjenige, der ich hier und jetzt bin. Ich bin das Geheimnis des Moments. Mich selbst kann ich genauso wenig verstehen wie die Gegenwart Gottes.

Das zu erkennen und zu leben, ist die Erlösung des Menschen. Bin ich mit dem Geheimnis des Augenblicks vertraut und lebe genau dieses Geheimnis in meinem Handeln, bin ich mitten in meiner Geschichte vom Ballast meiner Geschichte befreit. Ich lebe in der unmittelbaren Gegenwart Gottes. Meine Geschichte ist bei mir, doch steht sie dem Moment nicht im Weg. Unbefangen umgibt und dient sie mir als Resonanzraum. In einem solchen Augenblick ist mein Wille mit dem Willen Gottes synchronisiert. Gottes Wille geschieht in meinem Tun. Ich lebe das Geheimnis des Moments. Intuitiv ist mir klar, warum und wozu ich tue, was ich tue, ohne dass eine Erklärung nötig oder möglich ist. Ich lebe frei zwischen Ursache und Wirkung, und ich bin doch mitten in der Bedingtheit des Lebens.

Über dieses Geheimnis der Gegenwart zu reden, ist das eine, es in seinem Handeln zu leben, das andere. Doch genau darum geht es. «Walk the talk», heisst es auf Englisch mit einer Prägnanz, die sich im Deutschen nicht wiedergeben lässt. Der Weg in die Gegenwart Gottes lässt sich nur im konkreten Gehen Schritt um Schritt verstehen. Doch jeder Moment stellt mich vor die Kiste meiner Unvollkommenheit. Jeder Moment spielt mir Material zu, in das ich mich involviere und verstricke. Jeder Moment fordert mich dazu auf, dieses Material auszupacken, wahrzunehmen und zu würdigen, sodass es sich auflösen kann. Die Bereitschaft, sich dem eigenen Abgrund der Demut zu stellen, gehört zum Weg in die Gegenwart Gottes. Immer wieder von neuem. «Walk the talk!» Nur wenn ich das Reden über diesen Weg jeden Moment in meinem Handeln vollziehe, gehe ich ihn. Die Kiste der Unvollkommenheit – die eigene und die der andern – samt dem Leiden, das ihr eigen ist, ist grenzenlos. Je mehr ich mit der Erlösung in der Gegenwart Gottes vertraut bin, desto grösser wird auch die Demut dieser Kiste gegenüber.

Lukas erinnert mit der Geschichte von Stephanus auf eindrückliche Weise daran. Er beschreibt Stephanus als Mann von Geist und Weisheit (Apg 6,3) und erfüllt mit Gnade und Kraft, der grosse Wunder und Zeichen im Volk tut (Apg 6,8). Doch die Traditionalisten in den hellenistischen Synagogen bringen ihn gewaltsam vor den Hohen Rat. Dort werden Zeugen aufgeboten, die gegen ihn aussagen. Auch wenn er in der Gegenwart Gottes erlöst ist, so schlägt ihm doch die Unerlöstheit seines Umfelds entgegen. Vorerst aber hat er die Chance, sich diesem gegenüber zu verteidigen. Unser Predigttext ist der Beginn dieser Verteidigungsrede.

Diese Verteidigungsrede ist eine sperrige Rede. Sie fällt einerseits durch ihre Länge und andererseits durch ihren Mangel an Situationsbezogenheit auf. Weder die Vorwürfe der Zeugen werden aufgenommen, noch wird beantwortet, wie Stephanus darauf reagiert. Stattdessen wird ein langer Abriss der Geschichte Israels geboten, der anhand der Vergangenheit deutlich zu machen versucht, wie es um die Gegenwart steht. Herausgehoben wird dabei, dass die Gegenwart in ihrem Wesen von der segensreichen Verheissung Gottes erfüllt ist, dass Israel dieser jedoch mit seiner Eigenwilligkeit immer wieder Weg steht. Die Rede könnte im hellenistischen Umfeld des Stephanuskreises entstanden sein und dessen Geist und Weisheit atmen. Sie dürfte den dortigen Menschen aufzeigen wollen, dass ihre aktuellen Probleme mit der jüdischen Elite nicht aussergewöhnlich sind, sondern bereits in der gemeinsamen Geschichte erkennbar sind. Bei der Verfassung der Apostelgeschichte wird Lukas sie vorgefunden und Stephanus in den Mund gelegt haben.

Mit einer kleinen Überleitung schafft Lukas den Einstieg (V1): Der Hohe Priester gibt Stephanus das Wort und überlässt ihm die Bühne für sein langes Plädoyer. Vertraut mit rhetorischen Stilelementen, spricht Stephanus die Zuhörerschaft als Brüder und Väter an und fordert sie zum Hören auf. Ihm ist wichtig, sich respektvoll in ihre Reihen zu stellen. Er steigt ein bei der Verheissung, die Gott – wie er betont – unserem Vater Abraham gegeben hat (V2). Diesem ist der Gott der Herrlichkeit erschienen, eine Herrlichkeit, die auch Stephanus vor seiner Steinigung sehen wird (Apg 7,55). Bereits in Mesopotamien, noch bevor sich Abraham in Haran niedergelassen hat, ist dies geschehen. Ihm ist wichtig, herauszustellen, dass Abraham von allem Anfang mit dem Willen Gottes vertraut ist. In dieser Offenbarung fordert ihn Gott auf, weg von seiner Heimat und fort von seiner Verwandtschaft zu ziehen und in ein Land zu gehen, das er ihm zeigen werde (V3). Gehorsam geht Abraham diesen Weg (V4). Im Folgenden hebt die Rede darauf ab, dass Abraham in der Gegenwart der Verheissung bleibt, dass ihrer Erfüllung jedoch Grenzen gesetzt sind (VV5-7). Gott gibt ihm kein Erbteil am verheissenen Land, nicht einmal einen Fuss breit. Dem, der kinderlos ist, verheisst es Gott für seine Nachkommen. Doch diese werden das Land erst über den Umweg der Sklaverei in Ägypten gewinnen, bis sie Gott schliesslich hier im Tempel Jerusalems verehren. Die Verheissung Gottes ist zwar unerschütterlich, doch die Unwägbarkeiten des Lebens stellen sich ihrer Erfüllung immer wieder in den Weg. Was als Zeichen bleibt, ist der Bund der Beschneidung (V8). Deshalb beschneidet Abraham am achten Tag Isaak, Isaak den Jakob, und dieser seine zwölf Söhne.

Die Fortsetzung erzählt, wie die Geschichte weiter geht. Sie berichtet zuerst von Josef, der von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft wird, dank seiner Gnade und Weisheit aber beim Pharao Karriere macht, durch die Hungersnot führt und schliesslich für seinen Vater und seine Brüder zur Rettung wird (V9-17). Es folgen die Geschichte von Mose (VV17-43) und schliesslich die Geschichte vom Bundeszelt und Bau des Tempels (VV44-50). Dabei zeigt sich in unzähligen Variationen immer wieder das Gleiche: Auch wenn die Herrlichkeit Gottes mit der Verheissung der Erlösung stets gegenwärtig ist – die Kiste der menschlichen Unvollkommenheit setzt konstant Material frei, das ein Leben in Gottes Güte und Weisheit zur Herausforderung macht.

Die Rede von Stephanus stammt aus einer anderen Zeit, und die Ereignisse, von denen sie erzählt, liegen noch weiter zurück. Was sie indes thematisiert, ist ständig aktuell: die Verheissung, die in jedem Moment steckt, und die Widerstände, die deren Entfaltung im Weg stehen. In dieser Dynamik steckt offenbar ein Konflikt, der für die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens konstitutiv ist. Die Zeiten ändern sich, doch dieser Konflikt bleibt sich jeden Augenblick gleich – vom alten Israel, über die Zeit von Stephanus bis heute. Er ist gleichsam die Konstante, die jeden Moment neu aktualisiert wird.

Nachvollziehbar wird dieser Konflikt im Spiegel der eigenen Geschichte. Die selbstkritische Reflexion der eigenen Biographie zeigt rasch, dass ich mir das Leben zuweilen erstaunlich kompliziert mache. Auch wenn ich mit viel guter Lebenskraft gesegnet sein mag, gibt es ungute Gewohnheiten, die zu durchschauen und verändern ich erst nach vielen Jahren in die Lage komme. Das Material, in das ich mich verstricken und verlieren kann, scheint unbegrenzt, und das Tempo, mit dem es Staub ansetzt und sich zu Bergen auftürmt, unendlich gross. Der Verheissung, die in jedem Augenblick steckt, tut dies keinen Abbruch. Doch findet die Arbeit, die eigene Unordnung aufzuräumen und wieder in den Moment zu kommen, kein Ende.

Selbstredend gilt dies ebenso für unsere gemeinsame Geschichte. Es fehlt nicht an Aufbrüchen und Reformbewegungen. Stephanus erinnert in seiner Rede daran, und er selbst lebt im Rahmen der Jesusbewegung in einer von ihnen. Doch der göttlichen Kraft, in der Gegenwart zu sein und das Momentum zu leben, stellt sich die ganze Kiste der menschlichen Unvollkommenheit entgegen. Der Ukrainekrieg ist nur ein Beispiel. Restaurative Kräfte werden frei und lösen einen völlig widersinnigen Krieg aus. Die Schweizerische Antwort auf diesen Krieg mit ihrem Mythos von der Neutralität ist ein anderes. Die Flucht in Ideologie, Moralismus und Träume ist stets eine Flucht vor dem Moment. Es bedarf offenbar grosser, gemeinsamer und konsequenter Anstrengung, die eigene Unvollkommenheit und die der anderen anzuerkennen, sich mit ihr auf konstruktive Weise auseinander zu setzten und Erlösung zu schaffen.

Der Weg in die Gegenwart Gottes ist deshalb auch in unserer postchristlichen Zeit die unverzichtbare Ressource. Dieser Weg erinnert an die Verheissung jener Güte, die in jedem Moment steckt, aber er konfrontiert ebenso deren Weisheit mit der menschlichen Unvollkommenheit. Diese Weisheit weiss, dass der Konflikt mit der Unvollkommenheit zu jedem Moment gehört. Sie strebt nicht an, dies prinzipiell zu lösen, doch ringt sie mit Güte und Geduld um das, was sich situativ bewährt. Wie könnten wir heute, auch ohne traditionellen Glauben, die Weisheit, die sich dieser endlosen Arbeit stellt, nicht suchen wollen!

Entscheidend ist heute nicht die Rückkehr in traditionelle Christlichkeit. Im Zentrum steht vielmehr, dass wir den mystischen Weg in die Gegenwart Gottes tatsächlich gehen. Erzählen lässt sich dieser Weg in vielen Variationen. Das christliche Erbe ist eine von ihnen. Es bietet wunderbare Trainingsmöglichkeiten, um diesen Weg zu üben, zu vertiefen und zu reflektieren. Insofern ist es gleichsam ein Fitnesszentrum, das sich bewährt und uns auf unserem Weg in die Gegenwart unterstützt. Doch es entlastet uns nicht davon, den Weg in unserem eigenen Leben zu verstehen und zu gehen. «Walk the talk» ist die Integration unseres Denkens in unser Tun – unsere höchst persönliche Aufgabe für jeden Schritt, den wir gehen.

Gott lässt sich zwar nur von hinten erkennen, dann wenn der Moment verklingt und bloss noch die Spuren der Berührung da sind. Doch genau dies ist immer wieder möglich. Stellen wir uns also mit Güte und Weisheit unserer Unerlöstheit, packen wir sie aus und räumen wir auf! Auch wenn die Arbeit kein Ende hat, lohnt sich, damit anzufangen. Denn nur so gibt es auf dieser Welt Momente der Erlösung. Beten wir also, dass wir diesen Schritt gehen und der bedingungslosen Gegenwart eine Chance geben. Amen.

Predigt vom 04. Juni 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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