Nichtig und flüchtig, sprach Kohelet,
nichtig und flüchtig, alles ist nichtig.
Koh 1,2
Das Glück des Menschen liegt in der Gegenwart Gottes. Glücklich ist, wer seine Selbstverwirklichung darin findet, im Moment zu sein und dessen Geheimnis zu leben. Für den Glauben ist dies völlig klar: Wo dein Schatz ist, ist auch dein Herz. Suche ich mein Glück in vergänglichen Dingen, bin ich im Immer-Mehr gefangen und komme von mir selbst nicht los. Suche ich mein Glück hingegen in der Gegenwart Gottes, werde ich befreit von mir, bin vom Licht des Augenblicks erleuchtet und lebe glücklich (Mat 6,19-24). Deshalb steht sich der Mensch ständig in der Entscheidung, im Licht des Moments zu sein oder in die Finsternis des Vielen abzugleiten.
Für die Bergpredigt ist es eine Frage der Weisheit, sich dieser Entscheidung zu stellen und das Licht zu wählen. Denn dies bewährt sich und schafft ein gutes Leben. Für moderne Menschen ist die Weisheit dieser Entscheidung allerdings nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar. Lichter machen ihre Nacht zum Tag, Lichter flimmern ständig auf ihren Bildschirmen, Lichter von Zielen und Begehrlichkeiten locken und nehmen sie in Beschlag. Wie kann es in dieser geblendeten Dauererregung noch dunkel werden? Wie soll in diesem Geflimmer von Lichtern die Finsternis jemals spürbar werden? Wer nicht durch die Maschen des Systems fällt, wer nicht krank und depressiv wird, wer keinen Lebensverdruss entwickelt, ist mit Lichtern bestens bedient und braucht sich nicht um sein inneres Licht zu kümmern.
Es braucht keinen grossen Glauben, um festzustellen, dass da etwas aus dem Gleichgewicht gefallen ist. Wird unsere Welt mit Lichtern geflutet, hört die Dunkelheit nicht auf zu existieren, und wird das Licht immer greller, kehrt die Finsternis auf einmal umso heftiger zurück. Die inflationäre Zunahme von Licht mag dessen Wert reduzieren und dessen Verfügbarkeit steigern. Die Dunkelheit beseitigt sie nicht. Sie macht sie höchstens unsichtbar. Es braucht offenbar eine Verknappung des Lichts, um dessen Wert wieder zu sehen, es braucht eine Vertrautheit mit der Finsternis, um die Gegenwart des Lichts erneut zu schätzen.
Allerdings verändert dies den Blick auf die Lichter der Welt. Doch welchen Wert haben diese im Angesicht der Dunkelheit? Was ist ihre Bedeutung, wenn die Finsternis in demselben Augenblick zur Stelle ist, wo das Licht fehlt? Unser Predigttext setzt sich damit auseinander.
Nichtig und flüchtig, sprach Kohelet, / nichtig und flüchtig, alles ist nichtig. Dieser Vers ist das Leitmotiv im Buch Kohelet. Traditionell wurde dieses Buch aufgrund seines Anfangs – da ist vom Sohn Davids die Rede – als Buch des Königs Salomo, also Davids Sohn, verstanden (Koh 1,1). Salomo war für seine Weisheit berühmt (1Kö 3). Diese Unterstellung hat dem Buch Kohelet den Eingang in den jüdischen und christlichen Kanon verschaffen. In der heutigen Bibelforschung gibt es indes kaum Zweifel daran, dass diese Unterstellung historisch falsch und das Buch erst im 3.-2. Jhd. v. Chr. entstanden ist, also zu einer Zeit, als Israel unter hellenistischer Herrschaft stand und entsprechend beeinflusst wurde. Der Autor, der sich als Kohelet vorstellt, gibt sich als eine Art Philosophenkönig zu verstehen, der in der jüdischen Weisheitstradition verankert ist, sich sein ganzes Leben mit dieser Weisheit befasst hat und nun sein Fazit präsentiert. Unser Predigtvers bringt dieses auf den Punkt.
הֲבֵ֤ל הֲבָלִים֙ אָמַ֣ר קֹהֶ֔לֶת הֲבֵ֥ל הֲבָלִ֖ים הַכֹּ֥ל הָֽבֶל׃ (habel habalim, ʾamar kohælæt, habel habalim, hakol habæl), wörtlich übersetzt: Hauch der Hauche, sprach Kohelet, Hauch der Hauche, das alles – Hauch. Fünfmal findet sich dasselbe Wort הֶבֶל (hæbæl). In der Übersetzung der Zürcherbibel ist dies nicht mehr ersichtlich. Die Vulgata, also die lateinische Bibel, hat mit «vanitas» (Eitelkeit) übersetzt, damit jedoch Abstraktion geschaffen, moralisiert und den sinnlichen Bezug zum Windhauch aufgegeben. Luther hat diese «Eitelkeit» im Sinne von «leer» verstanden, woraus «nichts» geworden ist. Buber/Rosenzweig übersetzen mit «Dunst» («alles ist Dunst»). Eine existentialistische Interpretation übersetzt im Anschluss an den französischen Philosophen Albert Camus mit «absurd». Die Suche nach Weisheit bliebe demnach für Kohelet letztlich absurd.
Die Interpretation von Kohelets Leitmotiv ist wohl stets von ihrer eigenen Zeit beeinflusst. Wie aber könnte es Kohelet verstanden haben? Es steht zu Beginn des Buchs (1,1), und es wird am Ende nochmals wiederholt (12,8). Eine erste Deutung zeigt sich, wenn man es durch die Fortsetzung interpretiert, die ihm gleich zu Beginn folgt. Da stellt Kohelet nämlich die Frage, welchen Gewinn ein Mensch von seiner ganzen Mühe und Arbeit unter der Sonne habe. Ein Geschlecht gehe, ein Geschlecht komme, und die Erde bleibe ewig bestehen. Die Sonne gehe auf, die Sonne gehe unter, und sie strebe zurück, von wo sie gekommen sei. Der Wind komme von allen Seiten, und weil er drehe, komme er wieder. Die Flüsse flössen zum Meer, und dennoch würden die Meere nicht voll. So rede der Mund, und es komme keiner zum Ziel, das Auge werde nicht satt und das Ohr nicht voll. Was einmal geschehen sei, werde wieder geschehen, nichts werde wirklich neu. Alles sei längstens da gewesen. Doch heute erinnere man sich nicht an die Früheren, und den Späteren werde es ebenso gehen. Auch an sie werde man sich nicht mehr erinnern.
Im Blick steht also zunächst die Vergänglichkeit von allem menschlichen Handeln. Der Mensch mag sich und sein Tun ins Zentrum stellen. Doch nicht nur der einzelne Mensch, sondern ganze Geschlechter gehen und kommen. Was bleibt, ist die Erde samt Sonne, Wind und Meer. Doch auch diese zeigen das fortwährende Gehen und Kommen und die Unmöglichkeit, die Vollendung zu erreichen und aus diesem Gehen und Kommen zu entfliehen. Im Grunde wiederholt sich ständig dasselbe. Weil sich die Menschen zu sehr ins Zentrum stellen, überschätzen sie die Zeit ihres eigenen Tuns und meinen darin viel Neues zu entdecken. Würden sie genauer hinschauen und weniger sich selbst sehen, würden sie begreifen, dass nicht sie im Zentrum stehen, dass stattdessen die Welt beständig in ihrem eigenen, vom Menschen unabhängigen Gehen und Kommen bleibt. Die anthropozentrische Sicht wird also in eine kosmologische überführt. Dies aber zeigt, dass alles menschliche Tun und Haben hæbæl ist – nichts als ein Windhauch. Von Gott ist im ganzen Abschnitt nicht die Rede. Umso mehr beeindrucken indes die Parallelen zur taoistischen Weisheit[1] – gerade weil historisch eine Beeinflussung nicht anzunehmen ist.
Nichtig und flüchtig, sprach Kohelet, / nichtig und flüchtig, alles ist nichtig. Unsere Zeit ist von Lichterfluten geprägt, vom Kämpfen um Aufmerksamkeit und vom Ringen um die eigene Bedeutsamkeit. Denken wir vor diesem Hintergrund über diesen Spruch Kohelets nach, fordert er uns dazu auf, das Herz auf unsere Mitte auszurichten und uns zu überlegen, wie sich unsere Wirklichkeit dann präsentiert.
Findet unser Herz zu seiner Mitte, suchen wir jene Präsenz, in welcher Gehen und Kommen untrennbar zusammengehören. In unserer schnelllebigen Zeit sind wir rasche Wechsel gewöhnt, und wir sind mit dem Kick bestens vertraut, den hohes Tempo bereitet. Das Geflimmer der Lichter samt seinem Suchtpotential gehört zu unserer Zeit. Doch wie steht es mit dem Ausstieg daraus? mit jener Gelassenheit, die beides kennt: Ruhe und Bewegung, Dunkelheit und Licht? Kohelet beobachtet seine Welt aus einer Präsenz, in welcher er die Gegensätze des Lebens gleichsam in seiner linken und seiner rechten Hand hält. In dieser Präsenz ist er in seiner Mitte. Er sieht das Beständige und das Flüchtige, das Gehen und Kommen, er sieht, dass die Dinge, wie der Wind, einmal von hier, einmal von dort kommen, dass sie sich drehen, und zurückkehren. Sein Moment ist die Gegenwart des Lichts, bevor es etwas erhellt und etwas im Dunkeln lässt, gleichsam das Licht in der Dunkelheit des Weltalls. Dieses Licht ist nicht sichtbar, und wenn es gesehen wird, ist es nicht mehr das «dunkle Licht». Die Rede von der Gegenwart Gottes deutet diesen nicht-dualen Moment an, doch auch sie kann ihn nicht fassen. Gegenwärtig ist er indes ständig – wenn wir, wie Kohelet, im Hier und Jetzt sind und zugleich das Beständige und das Zeitliche, das Gehen und das Kommen von Ewigkeit und Zeit realisieren.
Diese Präsenzerfahrung gibt Stabilität im Wechsel der Zeit. Auch wenn alles in Bewegung ist, auch wenn alles geht und kommt, auch wenn jeder Moment ein neuer Moment ist – dies zu realisieren, vermittelt einen Blick auf das Ganze des Kosmos, das als solches beständig ist. Kohelet macht diesen Blick auf das kosmische Ganze an Erde und Himmel fest: Die Erde bleibt ewig, auch wenn die Geschlechter der Menschen gehen und kommen. Sonne und Wind gehen und kommen, doch auch sie bleiben. Erde und Himmel sind gleichsam die stabilen Pole des Gehens und Kommens in seiner Präsenzerfahrung. Deshalb gibt es auf der Erde und unter der Sonne nichts fundamental Neues. Alles ist Teil dieses kosmischen Ganzen, alles hat seine Zeit, alles ist in diesem kosmischen Ganzen aufgehoben (Koh 3). Hier zeigt sich also eine Weisheit, die sich nicht wie die alte israelitische Weisheit bei den Dingen des alltäglichen Lebens aufhält, sondern mit Erde und Himmel das Ganze und dessen Gehen und Kommen in Blick nimmt.
Dieser Blick aufs Ganze bleibt sich indes der eigenen Begrenztheit bewusst. Die Menschen sind nur ein Teil, der geht und kommt – das Ganze sind sie nicht. Heute ist davon die Rede, dass ein neues geologisches Zeitalter, das Anthropozän, begonnen habe. Die Menschheit habe den dominanten geophysikalischen Einfluss auf das Erdsystem und entsprechende Verantwortung. Es ist zweifellos so: Heute hat das Tun des Menschen eine im historischen Vergleich noch nie dagewesene Wirksamkeit. Heute sind Menschen in der Lage, sich selbst und ihre Welt zu zerstören. An der Verantwortung, die daraus entsteht, dürfen keine Abstriche gemacht werden. Kohelet stellt dies nicht in Frage. Doch er fordert dazu auf, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen und den Menschen im kosmischen Ganzen zu sehen: Die Menschen sind wie Flüsse ständig am Fliessen, doch nicht in der Lage, das Meer zu füllen und ihre eigene Vollendung zu finden. Mit all ihrem Reden und Tun kommen sie nie ans Ziel und bleiben begrenzt auf ihre eigene Wahrnehmung. Ihre Hybris führt sie zwar immer wieder dazu, dies zu vergessen, sich Illusionen hinzugegen und das Frühere nicht mehr zu erinnern. So wirksam sie mit ihrem Tun auch sind – es ändert nichts an den kosmischen Polen von Erde und Himmel und dessen Gehen und Kommen. Wer nicht in narzisstischer Allmacht und Kränkung stecken bleibt und stattdessen die eigene Begrenztheit akzeptiert, versteht, dass Irrungen und Wirrungen zum Lauf der Zeit gehören, dass dies gegenüber der kosmischen Wirklichkeit aber letztlich bedeutungslos ist. Das nicht zu vergessen, schafft auch im Angesicht bestehender Verantwortung für diese Welt Gelassenheit.
Alles menschliche Tun und Haben ist nichts als ein Hauch! Diese Botschaft der biblischen Weisheit ist nicht oberflächlich zu verstehen. Sie spricht nicht einer Weltverachtung das Wort, und sie entlastet nicht von der Verantwortung gegenüber dieser Welt. Doch sie erinnert daran, sich als Mensch im kosmischen Ganzen von Erde und Himmel samt dessen Gehen und Kommen zu sehen und so sich selbst und das eigene Tun und Haben nicht wichtiger zu nehmen, als es tatsächlich ist. Beten wir deshalb, dass wir nicht uns selbst zum Mass der Dinge setzen, sondern uns als Teil von Erde und Himmel sehen, der geht und kommt. Amen.
[1] So heisst es zu Beginn des Tao Tê King, dass das Namenlose, das Tao genannt werde, Urgrund der komischen Gegensätze sei, die sich als Himmel und Erde manifestieren. Wer ohne Begierde sei, sehe seine Geistigkeit, wer Begierden habe, schaue die Aussenwelt. Auch Kohelet orientiert sich an den kosmischen Gegensätzen von Erde und Himmel, der geht und kommt. Für den Weisen, der begierdelos ist, ist alles hæbæl; der Tor meint hingegen, es gäbe Neues, das bleibe und sich festhalten liesse (vgl. Lao-tse [1959]: Tao Tê King, übersetzt und kommentiert von Victor von Strauss, Zürich: Manesse: 57).
Predigt vom 26. Juni 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander