Umkehr

Umkehr

Doch über die Zeiten der Unwissenheit sieht Gott nun hinweg und ruft jetzt alle Menschen überall auf Erden zur Umkehr. Denn er hat einen Tag festgesetzt, an dem er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit durch einen Mann, den er dazu bestimmt hat, indem er ihn vor allen Menschen beglaubigte durch die Auferstehung von den Toten. Als sie das von der Auferstehung der Toten hörten, begannen die einen zu spotten, die anderen aber sagten: Darüber wollen wir ein andermal mehr von dir hören. So ging Paulus weg aus ihrer Mitte. Einige aber schlossen sich ihm an und kamen zum Glauben, unter ihnen Dionysios, ein Mitglied des areopagitischen Rates, eine Frau mit Namen Damaris und einige andere. Apg 17,30-34

In der Gegenwart Gottes wird ein Mensch wesentlich. Wer den Weg in die Gegenwart Gottes geht, wird von Unwichtigem geläutert, verabschiedet sich von Nebensächlichem und verwirklicht, was aus seinem Innersten werden will. Will ich genau bei dem sein, was ich hier und jetzt tue, muss ich meinen Eigenwillen fahren lassen und mich in Dienst dessen stellen, was aus meinem Selbst kommen will. Nur wenn ich so aus meiner Mitte agiere, stehe ich mir nicht selbst im Weg, nur wenn ich unmittelbar tue, was aus dem Geheimnis des Hier und Jetzt entstehen will, lebe ich in der Gegenwart Gottes. Präsenz schafft Verwesentlichung. Gehe ich diesen Weg, werde ich mich selbst.

Allerdings hat dieser Weg in postchristlicher Zeit viel Konkurrenz erhalten. Auf die alte Frage des Menschen nach sich selbst bieten sich heute unzählige Antworten an. Die Debatte um die aktuelle Identitätspolitik führt es exemplarisch vor. Ihre Motivation ist politisch, ihr Ziel das Ideal einer gleichberechtigen Gesellschaft ohne Diskriminierung. Im Fokus steht die Frage, womit ich mich identifiziere. Dabei wird unterstellt, dass ich bin, was meine Identität ausmacht und dass an mir liegt, wie ich sie konstruiere. Selbst- und Fremdwahrnehmung können divergieren, entscheidend soll indes sein, wie ich mich selbst verstehe. Auf der Grundlage meiner subjektiven Freiheit liegt ganz an mir zu entscheiden, wer ich bin, was ich aus mir mache, wie ich mich optimiere und wo ich dazu gehöre. Übernehme und respektiere ich die Verantwortung für diese Freiheit, soll weniger Diskriminierung verursacht und mehr Gleichberechtigung geschaffen werden. Die zuweilen hitzigen Diskussionen um die Thematik lässt keine Zweifel daran, dass die Frage des Menschen nach sich selbst auch in postchristlicher Zeit höchst aktuell ist.

Wer diese Frage in der Gegenwart Gottes zu beantworten versucht, stellt jene Verbindlichkeit ins Zentrum, die durch das Geheimnis des Moments geschaffen wird. Auf diese Weise wird der bedingungslosen Freiheit der Gegenwart Gottes samt ihrer Liebe und Weisheit das Wort geredet, die unabhängig vom politischen Kontext jeden Moment gegenwärtig ist. Bin ich in der Gegenwart Gottes, ist mein Selbst erwacht, und ich bin frei vom Hier und Jetzt zum Hier und Jetzt. Der politische Kampf um meine Identität wird damit nicht obsolet. Er ist jedoch nicht der Grund, der mich zum Kämpfen bringt, sondern die Folge meiner Freiheit in der Gegenwart Gottes. Ich weiss, um mit Bonhoeffer zu reden[1], dass die Frage nach meiner politischen Identität zum Vorletzten gehört und damit durchaus ihre Wichtigkeit hat, dass jedoch im Letzten, also in der Gegenwart Gottes, mein Selbst frei ist und dass ich Gottes Liebe und Weisheit in jedem Moment leben kann, wie auch immer die Umstände sind, in denen ich mich gerade befinde. Bin ich in dieser Verbindlichkeit verankert, handle ich nicht aus Mangel gegenüber einem Ideal, sondern dankbar und pragmatisch.

Unser Predigttext ist ein engagiertes Plädoyer für diese Umkehr in die Gegenwart Gottes, das Erwachen des Selbst und die Relativierung der Frage, was meine Identität ausmacht. Versuchen wir, ihm auf die Spur zu kommen!

Er bildet den Abschluss jener berühmten Predigt, welche Paulus aus Sicht des Lukas in Athen auf dem Areopag gehalten hat. Die Predigt versucht eng an die hellenistisch gebildete Zuhörerschaft anzuschliessen und verzichtet weitgehend auf traditionelles Verkündigungsvokabular. Umso deutlicher stellt sie die neue Verbindlichkeit ins Zentrum, die durch die Mystik der Gegenwart Gottes gegeben ist. Der «unbekannte Gott», dessen Altar Paulus in Athen gesehen hat, bildet den Anknüpfungspunkt. Ihn will Paulus verkünden. Diesen unbekannten Gott beschreibt er zunächst als Schöpfer und Herr von Himmel und Erde. Als solcher wohnt er nicht in Tempeln, die von Menschen errichtet sind, und hat keine Bedürfnisse, die ihn von Menschen abhängig machen. Doch dieser Gott ist nicht nur ganz anders als alles, was es gibt, sondern er ist auch mitten darin unmittelbar gegenwärtig. Die Menschen hat er nach einem einzigen Prototyp geschaffen, und er hat ihnen Zeiten und Orte gegeben, damit sie Gott im Geheimnis der Gegenwart suchen und finden können. Bereits die hellenistischen Dichter haben es erkannt: Die Menschen sind von seinem Geschlecht. Gott ist ihnen innerlicher als sie sich selbst. Daher ist das Göttliche nicht vergleichbar mit Gold oder menschlicher Kunst, sondern es ist als Geheimnis des ganz anderen in allem, was es gibt, unmittelbar gegenwärtig. Genau dies aber schafft die neue Verbindlichkeit, um die es Paulus nach Lukas geht (Apg 17,22-29).

Hier setzt unser Predigttext ein. Sein Ziel ist, die Zuhörerschaft von dieser neuen Verbindlichkeit zu überzeugen. Er betont zunächst, dass jetzt der Moment gekommen ist (V30). Gott sieht über die Zeiten der Unwissenheit hinweg und ruft im Jetzt alle Menschen überall auf Erden zur Umkehr. Die Perspektive ist wie in der ganzen Predigt universalistisch und umfasst alle Menschen unabhängig von ihrer geschichtlichen Bedingtheit. Entscheidend ist nicht, woher sie kommen. Gott sieht darüber hinweg. Entscheidend ist, dass sie umkehren und sich hier und jetzt auf Gott als das Geheimnis der Gegenwart einlassen.

Denn – so begründet er – genau dies ist die grosse Befreiung (V31). Wer dies nicht tut, bleibt im Gefängnis der Verstrickung. Um das zu erläutern, greift Paulus auf Vorstellungen der traditionellen Verkündigung zurück. Gott hat nämlich einen Tag festgesetzt, an welchem er den Erdkreis richten wird in Gerechtigkeit. Kommt dieser Tag in einer unbestimmten Zukunft oder findet er in jedem Hier und Heute statt? Das Johannesevangelium votiert für Letzteres (Joh 3,18; 12,31). Lukas lässt die Frage offen, deutet eine Antwort aber mit knappen Worten an. Er weist darauf hin, dass das Gericht durch einen Mann geschieht, den Gott durch die Auferstehung von den Toten beglaubigt hat. Sein Name wird genauso wenig genannt wie derjenige, von dem Paulus soeben gesagt hat, dass Gott aus ihm alle Menschen geschaffen hat (V26). Der Zusammenhang liegt deshalb auf der Hand: Wie Adam der Prototyp des Menschen ist, so ist der Auferstandene der Prototyp des Meisters der Gegenwart Gottes. Wer sich als Adam auf diesen Meister einlässt, findet die Freiheit der Gegenwart Gottes, wer es nicht tut, bleibt in der Verstrickung. Dieser Meister zeigt sich exemplarisch in Jesus Christus, er manifestiert sich als Richter der Zeiten, und er ist als innerer Meister in jedem Augenblick das Selbst des Menschen, ja von allem, was es gibt. Seine Auferstehung von den Toten, also seine nichtduale Gegenwart, ist das Siegel, mit dem ihn Gott beglaubigt. Deshalb soll man sich an ihm orientieren, deshalb soll man sich auf die neue Verbindlichkeit einlassen, die durch Gott als Geheimnis der Gegenwart gesetzt ist.

Die Fortsetzung beschreibt die Reaktionen, welche die Predigt auslöst (V32-34). Der Hinweis auf seine nichtduale Gegenwart als Auferstandener, die als Beglaubigung dienen soll, wird für die Zuhörerschaft zum Stein des Anstosses. Bei den einen löst er Spott aus, bei den andern ein unverbindliches Vertrösten auf ein Später, bei dem allenfalls mehr Plausibilität geschaffen werden mag. Doch Paulus erfährt im Unterschied zu früheren Auftritten keinen gewalttätigen Übergriff und geht erhobenen Hauptes aus ihrer Mitte. Zudem schliessen sich ihm einige an und kommen zum Glauben. Zu ihnen gehört Dionysios, ein Mitglied Areopags, eine Frau mit Namen Damaris und einige andere. Als respektierte Persönlichkeit der Stadtbehörde Athens hat Dionysios in den folgenden Jahrhunderten für Interesse gesorgt. Die spätere Überlieferung erzählt, dass er erster Bischof von Athen geworden sei, und im 5. Jahrhundert veröffentlich ein Theologe seine neuplantonisch-mystischen Schriften unter dem Pseudonym Dionysios Areopagita. Für Lukas ist der Auftritt von Paulus in Athen eine erste Begegnung in einem offenen Prozess zwischen antikem Denken und dem Glauben an die Gegenwart Gottes, nicht mehr und nicht weniger.

Sinnen wir heute über diesen Predigttext nach, gibt er uns die Wichtigkeit der Umkehr in die Gegenwart Gottes zu bedenken. An ihr entscheidet sich, ob wir in der Verbindlichkeit des Augenblicks leben, weben und sind, oder ob wir diese verpassen.

Die Umkehr zur Gegenwart Gottes ist zunächst eine harte Konfrontation mit sich selbst. Sie verbietet die Flucht in Gedanken, Erinnerungen und Gefühle, in Bilder, Geschichten und Ablenkung, und sie zwingt dazu, sich hier und jetzt ruhig und vorbehaltlos seinem rohen und ungeschminkten Dasein zu stellen. Doch jetzt ist der Moment für diese Konfrontation gekommen, ruft Paulus den Athenern zu. Gott sieht über die Zeiten der Unwissenheit hinweg und ruft jetzt alle Menschen überall auf Erden zur Umkehr. Diese Berührung durch den Moment, die Paulus in jedem Jetzt fordert, ist zunächst unheimlich und verstörend. Sie konfrontiert mit dem nackten Dasein, und sie macht bewusst, dass das Ich über einem Abgrund der Unwissenheit und Vergänglichkeit schwebt, der unweigerlich in Zweifel und Angst versetzt. Der politische Kampf um eine gerechte Gesellschaft, das Ringen um die eigene Identität, die Sorgen des täglichen Lebens verlieren über diesem Abgrund ihre Dringlichkeit. An ihre Stelle tritt die unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Fragilität und die Nichtigkeit des eigenen Daseins. Das vermeintlich stabile Ich franst in diesen Abgrund aus und ist kaum mehr als eine Maske, eine Persona, die im Spiel der Wirklichkeit ihren Part spielt. Wenn immer ich umkehre und mich der Gegenwart Gottes zuwende, bin ich mit dieser Wahrnehmung von mir selbst konfrontiert, und ich beginne zu begreifen, dass dieser Abgrund meine Wirklichkeit ist.

Doch so irritierend diese Konfrontation zunächst ist, sie ist auch die Tür zur bedingungslosen Freiheit der Gegenwart Gottes. Dies mit Worten zu begründen, ist indes nicht leicht. Was damit angezeigt ist, transzendiert das Zusammenspiel von Ich und seinem Tun, also von Subjekt und Prädikat. Mit der Chiffre von der Nicht-Dualität mag es angedeutet werden. Der lukanische Paulus greift deshalb auf das traditionelle Bild vom Weltgericht zurück, das Gott durch einen Mann, den er durch dessen Auferstehung beglaubigt hat, durchführe. Dieser Mann ist der Meister der Gegenwart Gottes, das nichtduale Selbst des Menschen. Er erwacht in jedem Menschen, der umkehrt und in der unmittelbaren Gegenwart Gottes zu sich selbst aufersteht. Wer so in der Gegenwart Gottes sich selbst wird, ist nicht in Geburt und Tod verstrickt und unbefangen wie ein Richter im Urteilen von Gut und Böse. Hört die Herrschaft des Ich auf und aufersteht das Selbst, beginnt das Werk des inneren Meisters. Dies ist die frohe Botschaft der Gegenwart Gottes, ihrer Freiheit, ihrer Liebe, ihrer Weisheit, und weil dies so ist, bleibt die Umkehr, die die Tür zu diesem Moment öffnet, der entscheidende Schritt. In jedem Augenblick, in welchem ich ihn tue, verliere ich meine Identifikation mit mir selbst und gewinne die Meisterschaft von meinem Selbst (vgl. Lk 9,23-27).

Eine solche Botschaft lässt sich mit Worten kaum vermitteln. Was der lukanische Paulus als Auferstehung formuliert, ist ein mystisches Ereignis, das all denen unmittelbar verständlich ist, deren Selbst aufgrund der Umkehr in die Gegenwart Gottes erwacht, sonst aber unverständlich bleibt. Die ambivalente Reaktion der Athener auf diese Botschaft ist deshalb bis heute typisch. Sie kann aktiv verspottet und abgelehnt, und sie kann mit Gleichgültigkeit und Unverbindlichkeit quittiert werden. Sie kann aber auch innere Resonanz auslösen und zu einem Glauben führen, der die Verbindlichkeit der Gegenwart Gottes im eigenen Selbst verankert und damit völlig natürlich, ohne menschliches Zutun, nur aus Gnade geschieht. Ein solcher Glaube geschieht mitten im Alltag, ist politisch und engagiert. Lebe, webe und bin ich in ihm, vergesse ich jedoch nicht, dass ich mir selbst ein Geheimnis bin und dass genau dieses meine Freiheit ist, die mich von meiner Selbstbezogenheit befreit und dieser Welt zuwendet.

Der Weg zu sich selbst ist der Weg in das Geheimnis der Gegenwart. Ihn zu gehen, ist ein Weg der Umkehr. Er konfrontiert uns damit, uns ohne Wenn und Aber auf unser pures Dasein einzulassen und unserer Fragilität und Nichtigkeit standzuhalten. Denn indem wir uns verlieren, finden wir in Gottes Gegenwart uns selbst. Es sind nicht die Umstände, in denen wir leben, die uns dazu bringen. Wohl aber verändern wir diese, wenn wir in Gottes Gegenwart wir selbst sind. Beten wir also, dass wir umkehren und den Weg in die Gegenwart Gottes gehen. Amen.

[1] Bonhoeffer, Dietrich (1981, 9. Auflage): Ethik. Zusammengestellt und herausgegeben von Eberhard Bethge. München: Chr. Kaiser Verlag, 133ff.

Predigt vom 24. August 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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