Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas zu Gott und stimmten Lobgesänge an, und die anderen Gefangenen hörten zu. Da gab es auf einmal ein starkes Erdbeben, und die Grundmauern des Gefängnisses wankten; unversehens öffneten sich alle Türen, und allen Gefangenen fielen die Fesseln ab. Der Gefängniswärter fuhr aus dem Schlaf auf, und als er sah, dass die Türen des Gefängnisses offen standen, zog er sein Schwert und wollte sich das Leben nehmen, da er meinte, die Gefangenen seien geflohen. Paulus aber rief mit lauter Stimme: Tu dir nichts an, wir sind alle da! Jener verlangte nach Licht, stürzte sich ins Innere und warf sich, am ganzen Leib zitternd, Paulus und Silas zu Füssen. Er führte sie ins Freie und sagte: Grosse Herren, was muss ich tun, um gerettet zu werden? Sie sprachen: Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und dein Haus. Und sie verkündigten ihm und allen, die zu seiner Familie gehörten, das Wort des Herrn. Und er nahm sie noch zur gleichen Nachtstunde bei sich auf und wusch ihre Wunden und liess sich und alle seine Angehörigen unverzüglich taufen. Dann führte er sie in seine Wohnung, liess den Tisch bereiten und freute sich mit seinem ganzen Haus, weil er zum Glauben an Gott gekommen war. Apg 16,25-34
Pfingsten ist das Fest der unmittelbaren Gegenwart Gottes. Was damit gemeint ist, lässt sich in Worten nicht erfassen. Das Geheimnis des Augenblicks ist zwar ständig gegenwärtig – in allen Menschen, in allen Lebewesen, in aller Materie. Alles, was ist, hat seine Zeit und bezeugt es. Doch seine unmittelbare Gegenwart kann ich nicht auf den Begriff bringen und begreifbar machen. Meine ich, es erfasst zu haben, ist es bereits vergangen. Erwarte ich es gespannt, merke ich nicht, dass es schon da ist. Und doch weiss ich, dass ich stets nur in diesem Moment da bin. Manchmal gelingt mir vielleicht sogar, den Moment nicht zu verpassen. Manchmal erahne ich vielleicht etwas von diesem Geheimnis der Gegenwart und merke, dass im Hier und Jetzt einiges ausgepackt und entdeckt werden könnte, wenn ich es nur wahrnehmen und leben könnte. Wie aber mache ich das bloss?
Halte ich dieser Frage stand, führt sie mich zum Abgrund meines Daseins. In dieser beschleunigten, postchristlichen Zeit kann ich sie leicht übergehen und unter einer Fülle von Material verstecken. An Informationen, die mich stimulieren, mangelt es nicht. Beantwortet ist die Frage damit allerdings nicht. Ich bleibe – ob ich es mir bewusst mache oder nicht – im Dilemma, dass mein Leben zwar stets im Hier und Jetzt geschieht, ich aber so sehr mit der Vergangenheit und der Zukunft beschäftigt bin, dass ich den Moment kaum erfasse und oft völlig verpasse. Bin ich ein betender Mensch, kann ich zwar mit Gott, dem Du des Moments, ringen und mit ihm vertraut werden. Doch wie lange halte ich diesem Ringen tatsächlich stand? Wie lange dauert es, bis ich mich in vertraute Floskeln flüchte und nicht mehr ehrlich nach Worten suche? Als meditierender Mensch kann ich die Stille suchen und mir bewusst machen, dass ich weder Beobachtender noch Beobachteter bin. Ich kann in der Stille ahnen, dass zwischen mir und mir eine Differenz besteht, ein Abgrund, den ich nicht füllen kann. Die Stille Meditation motiviert mich zwar dazu, in diesen Abgrund der Demut zu fallen, mit meiner Bodenlosigkeit und Leere vertraut zu werden und darin das Geheimnis der Gegenwart zu erfahren. Doch habe ich mich tatsächlich einmal in die Nähe dieses Abgrunds gewagt? Bin ich durch jene Angst und Verzweiflung hindurchgebrochen, die er auslöst, und ist in mir die Freiheit gegenwärtig geworden, die in diesem Durchbruch erwacht? Genau dieser Persönlichkeitsprozess ist nötig, um den Moment nicht mehr zu fliehen und im Hier und Jetzt anzukommen. Was damit gemeint ist, ist mir näher und zugänglicher als jeder Bezug, den ich zu mir haben kann, und zugleich ist es mir genau deswegen so fern und unzugänglich. Doch genau darin steckt das Geheimnis der Gegenwart Gottes.
Den biblischen Texten gebührt grosse Anerkennung, dieses Geheimnis markiert und thematisiert zu haben. Allerdings gleichsam umgekehrt: Sie beschreiben die Gegenwart Gottes als Atmosphäre, deren räumliche Mächtigkeit das Jetzt der Unmittelbarkeit spürbar macht. Die klassische Erzählung des Pfingstwunders ist das Paradigma (Apg 2,1-13). Nach der Himmelfahrt Jesu Christi bleibt den Glaubenden nichts als das unmittelbare Geheimnis der Gegenwart Gottes. Dieses aber schafft im Moment, in welchem es aufbricht, eine Atmosphäre, die mächtig wie das Brausen eines heftigen Sturms ist. Alle, die davon erfüllt sind, teilen den Augenblick und verstehen sich durch die Feuerzungen im Herzen unmittelbar von Herz zu Herz. Die Mächtigkeit dieser unmittelbaren Gegenwart strahlt aus und erfasst auch Aussenstehende. Wer von ihr durchdrungen ist, versteht ohne Vermittlung oder Erklärung auf der Stelle. Fehlt indes dieses unmittelbare Verstehen, bleibt die Gegenwart Gottes unverständlich und erscheint wie eine Droge, die Halluzinationen auslöst. Was der Pfingsttext illustriert, versucht unser Predigttext auf seine eigene Art nahezubringen. Versuchen wir, diese zu entschlüsseln!
Er berichtet auf legendenhafte Weise von der unmittelbar erfahrbaren Mächtigkeit der Gegenwart Gottes. Protagonist ist Paulus zusammen mit Silas. Ihre Mission hat sie nach Mazedonien, nämlich in die römische Stadt Philippi, geführt. Dort haben sie zwar im Haus der Lydia ein lokales Basislager gewonnen, doch geraten sie schon bald im Konflikt mit einem römischen Ehepaar, das sich durch ihr Tun geschädigt sieht. Es schleppt sie auf den Marktplatz und wirft ihnen vor, die römische Ordnung mit Propaganda für fremde, jüdische Gebräuche zu stören. Die öffentliche Stimmung schaukelt sich hoch, und die Vertreter des römischen Staates werden mitgerissen. Ohne Gerichtsverfahren lassen sie sie foltern, ins Gefängnis werfen, und sie tragen dem Gefängniswärter auf, sie in sichern Gewahrsam zu nehmen. Dieser führt sie in eine unterirdische Zelle und legt ihre Füsse in den Block, sodass sie nicht mehr gehen können (Apg 16,11-24). Paulus erzählt wenig später im ersten Brief an die Thessalonicher ebenfalls von den Misshandlungen in Philippi (1Thess 2,2).
Unser Predigttext erzählt nun, was sich im Gefängnis abspielt. Es beginnt um Mitternacht (V25). Paulus und Silas beten zu Gott und stimmen Lobgesänge an. Die anderen Gefangene hören zu. Auf einmal entsteht ein starkes Erdbeben, die Grundmauern des Gefängnisses wanken, unversehens öffnen sich die Türen und fallen allen Gefangenen die Fesseln ab (V26). Der Gefängniswärter erwacht und befürchtet, seine Gefangenen seien geflohen. Aus Angst vor drohender Strafe will er sich das Leben nehmen (V27). Paulus, der das aus unerklärlichen Gründen mitbekommt, stoppt ihn und macht ihm klar, dass niemand geflohen ist (V28). Der Wärter überprüft die Aussage nicht, sondern wirft sich sogleich Paulus und Silas zitternd zu Füssen (V29). Offenbar betrachtet er sie als göttergleiche Wesen. Er führt sie in den Gefängnishof und fragt, was er tun muss, um gerettet zu werden (V30). Paulus und Silas packen die Chance, um für ihre Mission einzustehen. Sie fordern ihn auf, an Jesus, den Herrn, zu glauben und versprechen Rettung für ihn und sein Haus (V31). Damit wird das Tempo der erzählten Ereignisse nochmals gesteigert. Mitten in der Nacht verkünden Paulus und Silas ihm und seinem ganzen Haus das Wort des Herrn (V32). Sogleich nimmt sie der Gefängniswärter bei sich auf, wäscht ihre Wunden und lässt sich und alle seine Angehörigen taufen (V33). Er führt sie in seine Wohnung, gibt ihnen zu essen und freut sich mit seinem ganzen Haus, weil er zum Glauben an Gott gefunden hat (V34).
Die Fortsetzung berichtet dann, wie die wunderliche Geschichte ausgeht (Apg 16,35-40). Ohne jede Erklärung verordnen die Vertreter des römischen Staates, dass Paulus und Silas freigelassen werden. Als ihnen der Gefängniswärter die Botschaft mitteilt, weigert sich Paulus, auf das Angebot einzusteigen. Er hält fest, dass sie römische Bürger sind, dass sie deshalb Anspruch auf einen fairen Gerichtsprozess gehabt hätten, dass sie also unrechtmässig behandelt worden sind. Weshalb er erst jetzt darauf hinweist, wird nicht erklärt. Jedenfalls erwartet er, dass die Vertreter des römischen Staats persönlich zu ihm kommen und ihn hinausgeleiten. Als diese davon hören und feststellen, dass sie sich unrechtmässig verhalten haben, bekommen sie Angst. Sie suchen Paulus und Silas auf, reden ihnen zu und bitten sie förmlich, die Stadt zu verlassen. Nachträglich wird also das Bild der römischen Rechtspflege etwas aufgehellt. Paulus und Silas verlassen darauf das Gefängnis. Sie gehen ins Haus der Lydia, treffen sich mit denen, die dort ihrer Mission Glauben schenken, sprechen ihnen Mut zu und verlassen Philippi in Richtung Thessaloniki. Der Gefängniswärter ist weder im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte noch in den Briefen des Paulus ein Thema. Die Geschichte von der Nacht im Gefängnis hat zwar in einer ähnlichen Geschichte über Petrus eine Parallele (Apg 12,5-10), doch bleibt sie ein Einschub, der gleichnishaft und nicht ohne Witz und Selbstironie die befreiende, aber unfassbare Macht der Gegenwart Gottes illustrieren will.
Besinnen wir uns heute, an Pfingsten, auf diesen Predigttext, sind wir eingeladen, darüber nachzudenken, wie denn wir das Unmögliche tun und für die unsagbare Gegenwart Gottes einstehen. Wir werden dies nicht ohne Schmunzeln tun. Denn wir stehen vor derselben unlösbaren Aufgabe wie die Autoren der Bibel.
Soll die unmittelbare Gegenwart Gottes zur Sprache kommen, geht es um etwas, das Bewusstsein und Sprachspiel unterläuft. Es ist innerlicher als ich mir selbst, innerlicher als jede Beziehung, die ich zu mir haben kann. Doch das Geheimnis dieser Gegenwart steckt in allem Sternenstaub, aller Materie, allem, was es gibt, unmittelbar drin und schafft weder eine heilige Sonderwelt, noch eine künstlerische Fiktion oder eine konstruktivistische Illusion. Lukas greift deshalb zum Stilmittel der Legende. Seine Erzählung fügt er möglichst nahtlos in seinen historischen Bericht ein und gibt ihr den Anschein von Realität. Zugleich aber bringt er etwas zur Sprache, das diese Realität aus dem, was ihr innerlicher ist als sie sich selbst, beleuchten will. Mit einem Augenzwinkern erzählt er, dass da etwas geschehen ist, das so nicht geschehen sein kann, aber jenes Geheimnis der Gegenwart sichtbar macht, das in all seinen historischen Berichten verborgen ist. Macht er da nicht etwas, das einem japanischen Zengarten ähnlich ist? Auch hier soll grösstmögliche Natürlichkeit geschaffen werden, indem der Freiheit der unmittelbaren Gegenwart nichts im Wege stehen soll. Ihre Kunst besteht nicht darin, der Natur etwas hinzuzufügen, sondern ihr Geheimnis im Hier und Jetzt unmittelbar gegenwärtig zu machen. Der alte, thomistische Ansatz formuliert den Ansatz darin präzise: Gottes Gegenwart zerstört die die Natur nicht, sondern vollendet sie von innen heraus.[1]
Wenn dies geschieht, wenn das Geheimnis Gottes gegenwärtig wird, entsteht eine Atmosphäre, die mit ihrer Mächtigkeit den Moment verwandelt und zur Freiheit befreit (vgl. Gal 5,1). Atmosphären bestimmen wie das Wetter den Augenblick. Sie erfüllen Räume und schaffen Stimmungen. Sie haben eine Mächtigkeit, der man sich kaum entziehen kann. Pflanzen, Tiere, Menschen sind ihr unmittelbar ausgesetzt, reagieren im Rahmen ihrer Möglichkeiten auf sie und werden in ihrem Verhalten von ihr beeinflusst. Unser Predigttext illustriert diese Mächtigkeit der Atmosphäre, welche durch Gottes Gegenwart geschaffen wird, mit starken Bildern. Das Beten und Singen von Paulus und Silas schafft eine Stimmung, die wie ein Erdbeben wirkt. Die Grundmauern des Gefängnisses wanken. Die Fesseln der Gefangenen fallen ab. Der Gefängniswärter kommt durcheinander, findet dann aber zu einer neuen Klarheit. Sein ganzes Haus wird verwandelt. So unsagbar die Gegenwart Gottes auch ist, so unmittelbar wirksam ist doch die Mächtigkeit ihrer Atmosphäre. Ist der Moment von ihr erfüllt, wachsen Menschen über sich hinaus und entdecken Zusammenhänge, die ihnen bisher entgangen sind. Getrenntes findet zusammen, Verstricktes löst sich auf. Es geschieht Befreiung, und man mag von Wundern sprechen. Doch im Grunde offenbart sich bloss jene Mächtigkeit der Gegenwart Gottes, die in jedem Hier und Jetzt im Spiel ist.
Um ihre Mächtigkeit im Hier und Jetzt zu erweisen, schafft sich die Gegenwart Gottes ihre eigene Architektur. Diese Architektur hält und verdichtet sie, sodass ihre Mächtigkeit als Kraft wirksam wird. In unserem Predigttext illustriert dies die Architektur des Gefängnisses, die nicht mehr in der Lage ist, ihre Gefangenen gefangen zu halten. Paulus und Silas interpretieren mit ihren Worten und Taten die Atmosphäre im Gefängnis, stehen für die Gegenwart Gottes ein und machen sich damit zu Werkzeugen ihrer verwandelnden Kraft. Sie zeigen keine Eile, aus dem Gefängnis befreit zu werden; denn sie sind in der Architektur, wie sie von der Gegenwart Gottes geschaffen wird, bereits frei. Der Unterschied zum platonischen Höhlengleichnis ist augenfällig. Bei Plato müssen die Gefangenen den Kopf zum Licht der Sonne drehen, die Scheinwelt in der Höhle erkennen, die Höhle verlassen und in die Klarheit der Idee des Gutschönen hinaustreten. In unserem Predigttext ist hingegen die Architektur des Moments erfüllt von der Freiheit der Gegenwart Gottes. Gefordert ist gerade nicht ein Prozess der Entmaterialisierung und Vergeistigung, sondern ein Erwachen der Gegenwart Gottes im konkreten Hier und Jetzt. Die Architektur des Moments bildet den rituellen Rahmen in Raum und Zeit, in welchem dies geschieht. Dabei kann alle Materie, alles Leben, alles Tun im Dienst der Gegenwart Gottes stehen und Teil von deren befreienden Architektur werden.
Pfingsten ist ein wunderbares und auch etwas wunderliches Fest, das man nicht ohne Humor feiern kann. Es feiert etwas, das nicht zu fassen ist und das es insofern gar nicht gibt, aber dennoch so unmittelbar gegenwärtig ist wie es nur das Geheimnis des Augenblicks sein kann. Beten wir also, dass wir vom Geist der Gegenwart Gottes erfasst werden und in ihm Befreiung erfahren. Amen.
[1] Sancti Thomae de Aquino (1962), Summa Theologiae, Roma: Editiones Paulinae: I, qu.1, art. 8, ad 2: Gratia non tollit, sed perficit naturam – Die Gnade beseitigt die Natur nicht, sondern vollendet sie. Auch wenn Thomas keine Zengärten vor Augen gehabt hat, so bringt sein Gedanke doch genau das zum Ausdruck, was in diesen zu erkennen ist.
Predigt vom 8. Juni 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander