Der Ansatz für den Wandel

Der Ansatz für den Wandel

Stephanus, erfüllt von Gnade und Kraft, tat grosse Wunder und Zeichen im Volk. Es traten aber einige auf von der sogenannten Synagoge der Libertiner, Kyrener und Alexandriner und einige von denen aus Kilikien und der Provinz Asia, die diskutierten mit Stephanus, vermochten aber der Weisheit und dem Geist, durch den er sprach, nichts entgegenzusetzen. Da stifteten sie einige Männer an zu sagen: Wir haben gehört, wie er Lästerreden gegen Mose und gegen Gott geführt hat. Und sie wiegelten das Volk, die Ältesten und die Schriftgelehrten auf, machten sich an ihn heran, ergriffen ihn und führten ihn vor den Hohen Rat. Und sie liessen falsche Zeugen auftreten, die behaupteten: Dieser Mensch hört nicht auf, Reden zu führen gegen diesen heiligen Ort und gegen das Gesetz. Wir haben nämlich gehört, wie er gesagt hat: Dieser Jesus von Nazaret wird diese Stätte zerstören und die Bräuche ändern, die Mose uns überliefert hat. Da blickten alle, die im Hohen Rat sassen, gespannt auf ihn. Und sie sahen, dass sein Antlitz wie das eines Engels war. Apg 6,8-15

Auffahrt ist das geheimnisvollste und intimste Fest des Kirchenjahres. Auffahrt ist die Liebesumarmung vom Geheimnis der Gegenwart Gottes. Diese Umarmung verlangt nicht nach Worten, sondern spricht für sich. Wer könnte die vertraute Nähe zum Geliebten zerreden wollen, und wer wollte sprechen, wo die Stille mehr sagt als Worte vermitteln können! Die Liebesumarmung ist von unmittelbarer Evidenz und fragloser Klarheit – ein enthülltes Geheimnis, das offen da ist und doch verhüllt bleiben will. Ihr Bild ist die Wolke, die verdeckt, was dem neugierigen Blick verschlossen bleiben soll, und die jene Liebesintimität schützt, die keine Störung duldet. Deshalb wird erzählt, dass Christus in diese Wolke eingeht. Die Gegenwart Gottes durchdringt ihn, und er verliert sich in sie. Sie durchglüht ihn, und er wird durch ihre Präsenz in das Feuer ihrer Liebe verwandelt. Dieses Feuer lässt niemanden kalt. Auch die Jünger, die das Ereignis damals erlebten, wurden von ihm verwandelt, und wir, die wir es heute feiern, werden von ihm erfasst. Wer – um in den Worten des Hohelieds zu sprechen – auch nur einmal von der Gegenwart Gottes geküsst worden ist, wird sich immer wieder nach diesem Kuss sehnen. Denn köstlicher als Wein ist diese Liebe, köstlicher als der Duft deiner Salböle (HL 1,2f).

Das sind poetische, fast schwärmerische Worte. Sie besingen die Gegenwart Gottes wie einen Liebesakt, und sie feiern Auffahrt als Fest, das diese Liebe gegenwärtig macht. Für die mittelalterliche Hoheliedmystik war dies eine Selbstverständlichkeit, und die Sehnsucht nach der unio mystica, also der Liebesvereinigung mit Gott, war ihr tiefstes Herzensanliegen. Sie wusste, dass dieses Ereignis stets geheimnisvoll bleibt, sie wusste, dass sich Gott in Finsternis kleidet und dass das Wasserdunkel dichter Wolken Gottes Zelt ist (Ps 18,12). Doch diese schrecklich unmittelbare Finsternis und Unsichtbarkeit Gottes war für sie das Geheimnis seiner grössten Intimität und Nähe. In ihr erfüllte sich seine Liebe, in ihr fand die menschliche Sehnsucht ihre Erlösung.

Unsere postchristliche Zeit hat diese Denkweise aus dem Auge verloren. Sie sucht ihr Glück in den Dingen und die Erfüllung ihrer Sehnsucht im Vielen. Die Rückkehr in die Gewissheit eines traditionellen Glaubens ist ihr versperrt, und die christliche Sprache ist ihr kaum noch verständlich. Geblieben sind indes die Abgründe menschlicher Verstrickung und Unerlöstheit – samt allem Leid, das damit einhergeht. Geblieben ist zudem die Einsicht, dass es in der Kette von Ursache und Wirkung Sprünge, Zufälle und Freiheiten gibt, die sich nicht erklären lassen. Trotz technischen Fortschritten, trotz besseren Lebensumständen für mehr Menschen, trotz zunehmenden Möglichkeiten, das eigene Leben zu optimieren – die Ressourcen des Lebens bleiben begrenzt, die Unvernunft färbt die Vernunft weiterhin ein, die Lebenszeit hat nach wie vor Anfang und Ende, der Moment ist immer noch kaum mehr als ein Hauch (Koh 1,2). Offensichtlich sind die Antworten auf grundlegende Fragen des menschlichen Daseins in Finsternis gehüllt und von einer dichten Wolke verdeckt. Wer sich da mit dem Geheimnis der Gegenwart vertraut macht und dessen Güte und Weisheit sucht, wird den Schleier des Geheimnisses nicht lüften. Aber er stellt sich der Unvollkommenheit des Menschen, ignoriert und verdrängt sie nicht, sondern sucht seinen Weg im Wissen um sie. Kann es mehr Realitätsbezug geben?

Unser Predigttext ist genau von dieser Einsicht geprägt. Er vermittelt nicht die Geborgenheit einer traditionellen Religiosität, sondern erzählt die Geschichte eines Menschen, der sich dem Geheimnis der Gegenwart und dem Weg, der sich ihm darin zeigt, stellt. Die Rede ist von Stephanus. Stephanus ist einer der sieben Weisen, der die Anforderungen an Geist und Weisheit für die Organisation der täglichen Versorgung der Witwen und Bedürftigen erfüllt (Apg 6,3). Bereits bei seiner Rekrutierung wurde er als Mann beschrieben, der mit Glauben und heiligem Geist erfüllt war. Dies stellt er in unserem Predigttext unter Beweis.

Gleich zu Beginn wird erzählt, dass er, erfüllt von Gnade und Kraft, grosse Wunder und Zeichen im Volk tut (V8). Stephanus soll offensichtlich als Mystiker dargestellt werden, der mit der Liebesumarmung in der Gegenwart Gottes vertraut ist, der als Mensch von der unmittelbaren Nähe Gottes durchdrungen wird und der in ihrer Güte und Weisheit lebt. Dank dieser Gottesgegenwart in ihm geschehen durch ihn Wunder und Zeichen im Volk. Gestellt wird er damit bewusst in die Reihe von Mose (Apg 7,36), Jesus (Apg 2,22) und den Aposteln (Apg 2,43), die ebenfalls Wunder und Zeichen taten. Doch wie bei ihnen erweckt dies auch ihm gegenüber Widerstand (V9-10). Es treten nämlich einige auf, die mit Stephanus zu diskutieren beginnen. Es sind Libertiner, Kyrenäer und Alexandriner, sowie einigen aus Kilikien und der Provinz Asia, und sie stammen, wie despektierlich vermerkt wird, aus sogenannten Synagogen des hellenistischen Umfelds. Anlass und Inhalt der Diskussionen werden nicht erwähnt. Entscheidend ist für die Erzählung zunächst nur, dass sie der Weisheit und dem Geist, durch den Stephanus spricht, nichts entgegen zu setzen haben. Wie bereits bei der Rekrutierung (Apg 6,3) sind auch hier Geist und Weisheit die entscheidenden Kriterien.

Die Diskussionen kommen nun freilich nicht zu einem guten Ende, sondern eskalieren und führen zum Konflikt (V11). Diejenigen, die mit Stephanus diskutiert haben, stiften nämlich einige Männer an, um ihn öffentlich zu verleumden. Sie sollen behaupten, Stephanus würde gegen Mose und gegen Gott lästern. Für Lukas, der hier erzählt, ist unbestritten, dass er weder das eine noch das andere tut. Denn aus seiner Sicht lebt Stephanus in der Gegenwart Gottes, schöpft aus deren Güte und Weisheit und folgt damit genau der Tora des Moses. Doch seine Gegner sehen das anders.

Sie lassen den Konflikt nämlich noch weiter eskalieren und greifen zu drastischen Mitteln (V12-14). Sie wiegeln das Volk, die Ältesten und die Schriftgelehrten auf, machen sich gewaltsam an Stephanus heran, ergreifen ihn und führen ihn vor den Hohen Rat. Offenbar erkennen sie im Reden und Handeln von Stephanus einen Verstoss gegen das jüdische Gesetz, das aus ihrer Sicht geahndet werden muss. Wieder bieten sie Zeugen auf, die vor dem Hohen Rat behaupten sollen, Stephanus höre nicht auf, gegen diesen heiligen Ort und gegen das Gesetz zu reden. Sie hätten nämlich gehört, wie er gesagt habe, Jesus von Nazaret würde diese Stätte zerstören und die Bräuche ändern, die Mose überliefert habe. Aus Sicht des Lukas ist auch dies eine Falschaussage, und die Zeugen, die sie erheben, sind falsch Zeugen. Denn Jesus hat zwar die Zerstörung des Tempels und Jerusalems vorausgesagt, doch nicht als seine Tat, sondern Tat der Feinde Jerusalems (Lk 19,41-44; 21,5f) – ein Ereignis, das im Jahre 70 n.Chr. durch die Römer tatsächlich eingetroffen ist. Offenbar deuten die Gegner von Stephanus dieses für sie traumatische Ereignis als Strafe für die christliche Verwässerung des Gesetzes von Mose. Lukas hingegen sieht Stephanus als denjenigen, der die Gesetzeskritik von Jesus aufnimmt und weiterentwickelt, aber ohne Mose und Gott zu verleugnen. Denn aus seiner Sicht macht sich Stephanus zwar weder für eine rigide Gesetzesobservanz, noch für den Tempelkult stark. Wohl aber steht er ein für eine Interpretation des Gesetzes Moses im Geist der Güte und Weisheit von Gottes Gegenwart. Er ist damit für Lukas ein wichtiger Wegbereiter der Heidenmission, also der Verkündigung des Evangeliums an Menschen ohne jüdischen Hintergrund.

Zunächst aber steht Stephanus vor dem Hohen Rat und muss Rechenschaft für sein Reden und Tun ablegen (V15). Alle, die dort sitzen, blicken gespannt auf ihn und sehen, dass sein Antlitz wie das eines Engels ist. Er verlässt sich in seiner Einsamkeit auf nichts als die Gegenwart Gottes, und diese verleiht ihm den Glanz wie eines Engels. Im Folgenden berichtet Lukas, dass Stephanus, sobald ihm der Hohe Priester das Wort erteilt, zu einer langen Verteidigungsrede anhebt (Apg 7,1-53), die freilich zu einem Tumult führt und mit der Steinigung des Stephanus endet.

Besinnen wir uns heute, an Auffahrt, auf Stephanus, wird uns der Ansatz für den Wandel des Glaubens vor Augen geführt: jene Kraft, in die wir durch die Nähe Gottes verwandet werden, die uns die Vergangenheit für die Zukunft aktualisiert und die uns mit dem ausstattet, was wir nötig haben, um Einsamkeit und Widerstand zu ertragen.

Stephanus wird als Mann voll Geist und Weisheit beschrieben. Für uns heute klingt eine solche Beschreibung eines Menschen fremd. Wie sollen Geist und Weisheit zu fassen sein und messbar gemacht werden können? Wie sollte verständlich sein, was die Kompetenz ist, die sie bezeichnen? Geist und Weisheit sind offensichtlich keine Techniken, die wir uns in der Schule oder einem Workshop aneignen können. Sie deuten vielmehr an, was einen Menschen auszeichnet, der den Weg der Gegenwart Gottes geht. Gehe ich diesen Weg, schaffe ich im Vielen, das mich umgibt, Raum, um mich mit dem Geheimnis des Moments vertraut zu machen. Immer wieder neu. Nichts soll dem Moment in die Quere kommen. Was ist, soll nicht mehr sein als das Inventar des Moments. Bin ich im Moment, werde ich von dessen Liebe erfüllt und beachte seine Weisheit. Diese Erfahrung ist jedem Menschen zugänglich, in jedem Hier und Jetzt, unabhängig von der religiösen Sozialisation. Sie ist ebenso säkular wie spirituell. Wie könnte es da eine Zeit geben, in der sie nicht aktuell ist?

Diese Wachheit für den Moment hat Stephanus zu einem neuen, für die Zukunft tauglichen Verständnis seiner religiösen Tradition geführt. Sie ist auch unser Schlüssel, um unseren christlichen Glauben in postchristlicher Zeit neu zu verstehen. Es besteht keine Veranlassung, an einem traditionellen, christlichen Glauben festzuhalten. Doch wir haben allen Grund, den Weg der Gegenwart Gottes zu gehen, zu würdigen, wo uns das christliche Erbe hilft, diesen Weg zu verstehen und umzusetzen, aber auch zu lassen, wo es uns im Weg steht. Entscheidend ist nicht ein Glaube, der ein Bekenntnis oder eine Moral für wahr hält, entscheidend ist, dass wir als Menschen immer wieder neu und immer mehr in der Gegenwart Gottes ankommen und dass wir deren Liebe und Weisheit leben. So bleibt der Ansatz, den uns Stephanus vorgelebt hat, aktuell für unsere Zeit, so aktualisieren wir jeden Moment das christliche Erbe für unsere Zukunft.

Dieser Prozess führt in die Einsamkeit und schafft damit Verbundenheit. Das Beispiel von Stephanus illustriert es. Wie Jesus wird er ganz alleine vor den Hohen Rat gestellt. Der Weg der Gegenwart Gottes führt ihn in den Abgrund seiner Einsamkeit und Verlassenheit. Vor dem Hohen Rat bleibt ihm nichts, an das er sich festhalten kann. Doch indem er in diesen Abgrund steigt, indem er sich selber lässt, wird Gott in ihm gegenwärtig. Sein Antlitz wirkt wie das eines Engels, und seine Präsenz zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Was hier aufblitzt, ist die Mystik des Moments. Nur wenn ich den Abgrund der Demut, der Einsamkeit und Verzweiflung kenne, blitzt dieser Moment in mir auf, nur wenn ich mich ganz auf die Gegenwart Gottes verlasse, bin ich mit allem verbunden. In diesem Moment stehe ich mit offenem Herzen da. Ich gebe mich preis, bin verletzlich und schutzlos, ohne Sehnsucht, verstanden und bestätigt zu werden. Der Widerstand all derer, die genau wissen, was wahr und gut und schön ist, wird mir gewiss sein – auch das zeigt die Geschichte von Stephanus. Doch was unmittelbar gegenwärtig bleibt, ist jenes Geheimnis des Moments, das mit seiner Güte und Weisheit von nichts und niemandem angetastet und beseitigt werden kann.

Unsere postchristliche Zeit ist dem christlichen Weltbild entwachsen. Doch wie könnten wir die Mystik des Moments, an welche das christliche Erbe erinnert, preisgeben! Wie könnten wir jenes Geheimnis vergessen, das jeder Augenblick birgt, unser Herz glücklich macht und uns mit seiner Liebe und Klarheit ständig neu entgegenkommt! Beten wir also, dass wir von Gottes Gegenwart geküsst werden und dass wir im Hier und Jetzt erwachen. Amen.

Predigt vom 18. Mai 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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