Konflikt

Konflikt

Als sie geendet hatten, ergriff Jakobus das Wort und sprach: Brüder, hört mir zu! Simeon hat erzählt, wie Gott von Anfang an darauf bedacht war, aus allen Völkern ein Volk für seinen Namen zu gewinnen. Damit stimmen die Worte der Propheten überein; so steht geschrieben: Danach werde ich umkehren und wieder aufbauen die Hütte Davids, die zerfallene. Aus ihren Trümmern werde ich sie wieder aufbauen und sie wieder aufrichten, damit den Herrn suchen, die überlebt haben unter den Menschen, alle Völker, über denen ausgerufen ist mein Name, spricht der Herr, der dies tut. Bekannt ist es von Ewigkeit her. Darum halte ich es für richtig, denen aus den Völkern, die sich zum Herrn wenden, keine Lasten aufzubürden, sie aber anzuweisen, sie sollten sich fernhalten von Verunreinigung durch fremde Götter, durch Unzucht oder durch Ersticktes und Blut. Denn seit Menschengedenken hat Mose in jeder Stadt seine Verkündiger, da an jedem Sabbat in den Synagogen aus ihm vorgelesen wird. Apg 15,13-21

Die Gegenwart Gottes ist ein geheimnisvoller Einheitspunkt. Sie durchdringt die Materie, verbindet alles, was es gibt, und schafft eine Gemeinschaft, die einzig und allein darin besteht, dass sie in Gottes Gegenwart existiert. Wer von ihr erfasst ist, sucht diese grosse Einheit. In ihr sind Körper und Seele, Materie und Geist, nicht getrennt. Sie durchdringen sich vielmehr wie die beiden Linien eines Kreuzes. Ich bin Materie, gehe durch die Zeit, werde geboren und sterbe (horizontale Linie). Zugleich aber bin ich von der Gegenwart Gottes jeden Moment beseelt und von ihrem Geist erfüllt (vertikale Linie). Körper und Geist sind damit nicht identisch, doch sie kreuzen sich im Hier und Jetzt. Bin ich in diesem Durchdringungspunkt, beginne ich zu begreifen, dass ich mein Dasein mit allem, was es gibt, teile: Ich bin durch und durch Materie – Sternenstaub, im Angesicht des Universums kaum mehr als nichts. Und ich bin wie alle Materie ebenso ständig durchdrungen von Gottes Gegenwart. Diese Kombination macht jeden Moment für mich einmalig und vergänglich und zugleich integriert sie mich in die ewige Gegenwart Gottes. Dank ihr bin ich frei, ob ich lebe oder sterbe, dank bin ich hier und jetzt mit allem, was es gibt, verbunden.

Die Gegenwart Gottes ist eine Lehrmeisterin, die durch nichts als ihre Liebe und Weisheit lehrt. Wer sich ihr anvertraut, geht seinen Weg in Gemeinschaft. Die Unmittelbarkeit des Moments schliesst nichts aus und teilt sich mit allem. Doch was bedeutet das konkret? Woran lässt sich die Gegenwart Gottes erkennen? Gibt es Kriterien, die sie ausweisen? Für die einen mag zwar evident sein, was Gottes Gegenwart ist. Aus ihrer Sicht spricht sie für sich und bestätigt ihre Stärke, indem sie Belastungen standhält. Doch für die andern ist dies ungenügend. In ihrer Vorstellung muss geklärt sein, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um mit Recht sagen zu können, dass Gott gegenwärtig ist. Selbst wenn beide Seiten das gemeinsame Ziel verfolgen, eine Gemeinschaft der geteilten Gegenwart Gottes zu bilden, sind ihre Perspektiven so gegensätzlich, dass sie gerade nicht jene Gemeinschaft stiften, die sie suchen, sondern die Gemeinschaft spalten und Streit verursachen.

Auf eine solche Streitsituation ist unser Predigttext bezogen, und er ringt darum, einen Weg zu zeichnen, wie der Konflikt gelöst werden könnte.

Zur Diskussion steht ein Rechtsstreit, der die Urkirche grundlegend auf die Probe stellt. Auslöser ist die Frage, ob für Menschen nichtjüdischer Herkunft die Beschneidung und mit ihr das mosaische Gesetz eine Bedingung ist, um die Gegenwart Gottes miteinander zu teilen und zur Gemeinde zu gehören. Um diesen Streit zu klären, kommen in den späten 40er Jahren in Jerusalem eine Gruppe von Repräsentanten der Urkirche zusammen. Apostel und Älteste der Jerusalemer Gemeinde sind anwesend. Die grosse Metropole Antiochia ist mit einer Delegation unter der Führung von Paulus und Barnabas vertreten. In diesem Kreis wird nun die Streitfrage verhandelt. Petrus hat sich bereits zu Wort gemeldet und klar und deutlich Position bezogen. Aus seiner Sicht hat Gott von langer Hand entschieden, dass das Evangelium allen Völkern gilt. Gott hat dies bestätigt, indem er den heiligen Geist ebenso den Völkern wie den Juden gegeben hat. Für ihn gründet die Gemeinschaft der geteilten Gegenwart Gottes einzig und allein in der bedingungslosen Gnade und stellt keine Bedingungen. Sein Plädoyer wird mit zustimmendem Schweigen quittiert. Anschliessend bekommen Barnabas und Paulus die Gelegenheit, die Position von Petrus mit ihren eigenen Erfahrungen zu untermauern (Apg 15,1-12).

Hier setzt unser Predigttext ein. Sobald Barnabas und Paulus ihren Bericht abgeschlossen haben, ergreift Jakobus das Wort. Er spricht die Anwesenden als Brüder an und fordert sie dazu auf, ihm zuzuhören (V13). Gleich zu Beginn macht er damit deutlich, dass er nun als Leiter der Gemeinde Jerusalems spricht und keine weiteren Diskussionen wünscht. Er knüpft bruchlos an Petrus an (V14). Ihm liegt daran, an dessen Autorität anzuschliessen und die Traditionalisten seiner Gemeinde zum Einlenken zu bewegen. Zunächst rekapituliert er, was Simeon ausgeführt hat: dass Gott von Anfang an darauf bedacht ist, aus allen Völkern ein Volk für seinen Namen zu gewinnen. Aus seiner Sicht hat also Gott von allem Anfang jene grosse Gemeinschaft im Blick, die um ihn weiss und seine Gegenwart teilt.

Jakobus versucht nun, diese Position mit einem Schriftbeweis zu bestätigen (V16-18). Er bringt ein Mischzitat, das auf Am 9,11f aufbaut. Dieses Prophetenwort gab ursprünglich der Hoffnung Ausdruck, dass das in Trümmer liegende Jerusalem wieder aufgebaut und seine Herrschaft über alle Nationen aufgerichtet wird. Im Plädoyer von Jakobus soll es bestätigen, dass Gott seinen ursprünglichen Plan wieder aufgreift, dass er sich darum kümmert, dass die grosse Gemeinschaft derer, die seine Gemeinschaft teilen, in Trümmern liegt und dass er will, dass aus allen Völkern dazugehört, wer diese Gemeinschaft sucht. Sein Schriftbeweis baut also auf das jüdische Erbe auf, interpretiert es aber so, dass es von Anfang an über sich hinausweist und alle Völker, ja alles, was es gab, gibt und geben wird, einbezieht.

Daraus zieht er nun seine Schlüsse (V19-21). Er macht deutlich, dass er es für richtig hält, denen aus den Völkern, die sich zum Herrn wenden, keine Lasten aufzubürden. Weil sich Gott eine Gemeinschaft wünscht, die nichts als seine Gegenwart teilt, gehören auch sie bedingungslos dazu. Jakobus hat aber auch die Traditionalisten seiner Gemeinde vor Augen, die dem jüdischen Gesetz verpflichtet sind und denen Gemeinschaft nur mit jenen erlaubt ist, die Mindestanforderungen erfüllen. Er hält sich dabei an das, was Mose nach Lev 17-18 von den Fremden verlangt, die unter Israeliten leben: 1. dass sie kein Fleisch essen, das für heidnische Zeremonien bestimmt ist; 2. dass sie nicht in Verwandtschaftsgraden heiraten, die Juden verboten sind; 3. dass sie nur geschächtetes Fleisch essen; und 4. dass sie kein fremdes Blut zu sich zu nehmen. Werden diese Forderungen beachtet, gibt es auch für die Traditionalisten keine Hindernisse, mit anderen in Gemeinschaft zu leben. Zum Schluss verweist Jakobus darauf, dass Mose seit Menschengedenken in jeder Stadt am Sabbat in den Synagogen gepredigt wird. Jakobus stellt also jene Gemeinschaft, die durch nichts als die Gegenwart Gottes konstituiert wird, ins Zentrum, fordert aber auch Respekt vor denen, die davon überzeugt sind, dass ihnen diese Gemeinschaft nur unter den Bedingungen des Mose erlaubt ist. Die Fortsetzung berichtet dann, dass sein Vorschlag als Kompromiss aufgefasst, angenommen und kommuniziert wird. Der Streit wird damit beigelegt.

Besinnen wir uns heute auf diesen Bibeltext, werden wir dazu aufgefordert, darüber nachzudenken, ob und inwiefern es Kriterien für eine Gemeinschaft gibt, die sich durch das Teilen der Gegenwart Gottes definiert. Wie kann ein Konflikt über diese Frage gelöst werden?

Zunächst ist festzuhalten, dass jede Forderung, diese Gemeinschaft an Kriterien auszuweisen, in eine Sackgasse führt. Eine Gemeinschaft, die durch die Gegenwart Gottes geschaffen wird, geschieht aus sich selbst, aus purer Gnade und entzieht sich jeder Bindung an menschliche Bedingungen. Selbst Jakobus, der als Leiter der Jerusalemer Gemeinde tief in der jüdischen Tradition verankert ist, schliesst sich der Position von Petrus an. Auch für ihn steht ausser Zweifel, dass Gott von Anfang an auf eine universale Perspektive bedacht ist. Gott ist als bedingungsloses Geheimnis der Gegenwart allen menschlichen Bedingungen vorgeordnet und keinen menschlichen Bedingungen unterworfen. Dies zu bedenken, ist bis zum heutigen Tag eine Herausforderung. Ich bin als Mensch wie alle Materie Sternenstaub, und zugleich verdanke ich mein Hier und Jetzt der Gegenwart Gottes. Ob dies richtig oder falsch ist, kann ich weder beweisen noch vermitteln. Ich kann mich nur darauf einlassen, von ihrer mystischen Evidenz durchdrungen sein und mich an dem freuen, was sie mich lehrt.

Allerdings ist diese Bedingungslosigkeit der Gegenwart Gottes für eine menschliche Gemeinschaft schwer erträglich. Wie soll man von ihr sprechen? Wie soll man sie feiern und organisieren? Wie soll man überhaupt wissen, dass man sie miteinander teilt? Jakobus rekurriert deshalb auf die gemeinsame Tradition. Er erinnert an ein Prophetenwort, das seine Überzeugung unterstützen soll und versucht, auf diesem Weg Plausibilität zu schaffen. Das Vorgehen ist nachvollziehbar, doch zeigt sich gerade heute auch seine Schwäche. Zwar steht unsere postchristliche Zeit auf einer christlichen Tradition. Doch die Selbstverständlichkeit für diese gemeinsam geteilte Tradition erodiert und ist als Referenz fragil geworden. Ist nun also die Zeit für eine postchristliche Mystik gekommen? Eine Mystik, die sich am christlichen Erbe abarbeitet, sich aber einzig und allein der Gegenwart Gottes verdankt? Eine solche Mystik ist universal. Sie ist ebenso materialistisch wie spirituell, ebenso individuell wie interkulturell und interreligiös. In Konflikten zeigt sie sich realistisch, pragmatisch – und politisch. Sie setzt auf die Liebe und Weisheit der Gegenwart Gottes und vergisst die Gemeinschaft und Verbundenheit nicht, die damit gegeben sind. Doch Widerstand und Abschreckung sind für sie als Mittel der Konfliktlösung ebenso selbstverständlich wie Dialog, Fairness und Kompromiss.

Schliesslich stellt sich die Frage, wie mit Forderungen umgegangen werden soll, die für Teile der Gemeinschaft zwingend sind. Für die Traditionalisten der Jerusalemer Gemeinde sind die Mindestanforderungen des mosaischen Gesetzes die Bedingungen für die Gemeinschaft der Gegenwart Gottes. Jakobus setzt sich als Gemeindeleiter für diese Gruppe ein und fordert von allen andern, dass sie deren Bedingungen akzeptieren. Auch wenn er für die Bedingungslosigkeit einsteht, legt er doch einen Kompromiss vor, der erwartet, dass sich die Mehrheit der Minderheit anpasst. Ist dies Ausdruck von Grossmut zum Schutz der Minderheit? Oder doch eher ein Einknicken vor einer lauten, aber kleinen Minderheit, mit der er es nicht verscherzen will? Sein Vorschlag ist pragmatisch und hat zunächst Erfolg. Doch ist er – wenig überraschend – nicht nachhaltig und setzt sich langfristig auch nicht durch. Wichtiger ist offenbar die Bereitschaft, Kompromisse zwischen Minderheit und Mehrheit auszuhandeln, die fair und sozialverträglich sind. Wer sich konsequent an der Gegenwart Gottes orientiert, relativiert die Unterschiede zwischen Standpunkten und setzt undogmatisch auf Differenzverträglichkeit. Doch so hilfreich dies in Streitsituation sein mag, so anspruchsvoll ist es zuweilen. Die universale, mystische Gemeinschaft, die nicht an Bedingungen geknüpft ist und Gott von allem Anfang an im Sinn hat, ist offenbar immer wieder davon bedroht, von menschlichen Partikularinteressen vereinnahmt und übersteuert zu werden. Umso wichtiger ist deshalb, hier und heute für sie einzustehen und nach fairen Lösungen zu suchen.

Die Gegenwart Gottes unterläuft jeden Streit um Bedingungen, die sie ausweisen sollen. Sie geschieht bedingungslos, aus Gnade. In ihr kreuzen sich Materie und Geist, in ihr verbindet sich das Universum zur Einheit. Doch dies zu realisieren, war und ist für uns Menschen bis zum heutigen Tag anspruchsvoll. Rasch stellt sich die Frage nach den Kriterien, die sie verfügbar machen, rasch kommt es darüber zu Streit und Konflikt oder gar zu Gewalt und Krieg. Es tut deshalb not, uns in der Gegenwart Gottes zu verankern und uns in all unseren menschlichen Konflikten von ihrer Liebe und Weisheit leiten zu lassen. Beten wir also, dass uns dies gelingt und dass wir in Konflikten aus der bedingungslosen Einheit in Gott agieren. Amen.

Predigt vom 23. Februar 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

PDF Datei herunterladen