Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unsres Herrn Jesus
Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.
Gal 6,14
Liebe Gemeinde
Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unsres Herrn Jesus
Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Formuliert ist mit
diesem Satz, was für Paulus dasjenige ist, das ihn im Innersten seines Herzens
bewegt. Er zeigt, was sein Herzensanliegen ist, er bringt zum Ausdruck, wofür sein
Herz schlägt und wovon sein Herz reden will. Uns stellt er damit vor die Frage, was
dasjenige ist, wovon unser Herz voll ist, ob wir dasselbe wie Paulus bezeugen
möchten oder ob uns ganz anderes viel näher liegt. Der Beginn eines neuen Jahres
kann eine gute Gelegenheit sein, sich darüber Rechenschaft zu geben; denn es zeigt
uns die Richtung, in die unsere Herz gehen möchte, es zeigt uns den Weg, den wir
dieses Jahr von Herzen beschreiten möchten.
Im Herzen eines Menschen wohnen viele Gefühle und Erinnerungen. Viele
Geschichten tragen wir in unserem Herzen: Geschichten von Liebe und Trauer.
Geschichten von Freuden und Leiden. Geschichten von glücklichen Momenten und
schrecklichen Enttäuschungen. Wir können im Herzen Frieden mit den Menschen
schliessen, die wir in unserem Leben angenehm oder unangenehm erlebt haben,
und wir können aus unserem Herzen auch eine Mördergrube machen. Entsprechend
kann unser Herzen hell, ruhig und froh, aber auch finster, unruhig und bitter sein.
Und möglicherweise ist es gar nicht so eindeutig das eine oder das andere. Wir
können mit vielem versöhnt sein und zugleich immer noch dunkle Winkel haben. Wir
können mit vielem im Frieden sein und zugleich immer noch mit gewissen Dingen
hadern.
Es tut gut, sich mit seinem eigenen Herzen vertraut zu machen. Es beginnt dies
bereits auf der körperlichen Ebene. Wir leben nur, weil und solange unser Herz
schlägt. Wenn wir unser Herz durch Stress zu sehr belasten oder wenn wir es durch
einen bewegungsarmen Alltag zu sehr vernachlässigen, können wir Herz- und
Kreislaufprobleme bekommen. Sich mit seinem Herzen vertraut machen, heisst
jedoch auch, seine Stimme hören zu lernen; zu vernehmen, was es uns zu sagen
hat; wahrzunehmen, was es uns in unseren Leben rät; ernst zu nehmen, was für
Fragen es uns stellt, was für Einsichten es uns gibt, vor was für Risiken es uns warnt,
zu was für Taten es uns ermutigt. „Le coeur a ses raisons que la raison no connaît
point“ / „Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft nicht kennt“, hatte der
französische Philosoph Blaise Pascal feststellt. Wahr gesprochen. Sehr wahr.
Suchen wir also danach, was uns zuinnerst im Herzen bewegt !
Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unsres Herrn Jesus
Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Für Paulus ist es das
Kreuz Jesu Christi, das er im Innersten seines Herzens trägt; denn dessen allein will
er sich rühmen. Er bestreitet nicht, dass man im Herzen viele Dinge tragen kann,
deren man stolz sein könnte. Mögen dies nun grosse Erfolge sein, die soziale
Anerkennung und Prestige eingetragen haben oder kleine Selbstbestätigungen in
alltäglichen Auseinandersetzungen, die der eigenen Eitelkeit schmeicheln und so
manche Kränkung kompensieren. Im Herzen wissen wir, woran wir uns halten und
was unseren Stolz begründet. Paulus hält nun aber fest, dass für ihn all diese Dinge
keine Bedeutung haben, dass er sich ihretwegen nichts einbildet, dass er ihretwegen
nicht stolz ist. Sein einziger Stolz im Herzen ist der Gekreuzigte.
Offensichtlich hat er mit dem Gekreuzigten einen Fund gemacht, der ihn durch und
durch überzeugt. Es ist der Fund, diejenige Autorität gefunden zu haben, die in
keiner Weise überboten werden kann: Die Autorität in der Gebrochenheit des
Lebens. Die Autorität also, die sich nicht dadurch auszeichnet, dass sie grösser als
andere Autoritäten ist oder sich durch Kampf gegen andere Autoritäten durchgesetzt
hat oder mehr von dem hat, was andere auch haben, sondern dadurch, dass sie die
Souveränität hat, nicht mit andern Autoritäten zu rivalisieren, dass sie die Stärke hat,
in Machtfeldern zwischen den Fronten sich selbst zu bleiben, dass sie die Kraft hat,
unabhängig von den Andern, in der Verlassenheit, in der Gebrochenheit, in der
Einsamkeit standhaft zu bleiben. Diese Autorität der Freiheit in den Kämpfen des
Lebens, diese Autorität Gottes im Gekreuzigten, diese Autorität hat Paulus
offensichtlich in seinem Herzen gefunden. Nicht als Autorität neben andern
Autoritäten. Sondern als Autorität der Freiheit in der Gebrochenheit des Herzens; als
Autorität, die ihm innerlicher ist als er sich selbst; als Autorität, bei der er im Herzen
Ruhe und Frieden findet. Sie ist ihm deshalb das Einzige, dessen er sich rühmen will.
Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unsres Herrn Jesus
Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Mit der Autorität des
Gekreuzigten im Herzen verändert sich für Paulus der Umgang mit der Welt; denn
diese Autorität steht gleichsam zwischen ihm und der Welt. So wie sie in der
Gebrochenheit seines Herzens zwischen ihm und ihm steht, so manifestiert sie sich
auch gegenüber der Welt. Die Autorität des Gekreuzigten im Herzen unterbricht sein
bisheriges Verhältnis zur Welt. Auf der einen Seite ist ihm die Welt gekreuzigt, ist sie
ihm keine über ihm herrschende Definitionsmacht mehr. So wichtig ihm früher die
Erfüllung des Gesetzes war, so sehr kann er dies nun als abgetan betrachten; denn
für ihn gelten nicht mehr die Massstäbe der Welt. Auf der andern Seite ist er aber
auch der Welt gekreuzigt. Er erhebt keine Machtansprüche mehr gegenüber der
Welt, will sie nicht mehr nach eigenen Vorstellungen verändern und verfolgt nicht
mehr das Ziel, sich ihr gegenüber durchzusetzen. Die unmittelbare Kommunikation
zwischen ihm und der Welt ist offensichtlich unterbrochen; er startet bei
entsprechenden Impulsen der Welt nicht mehr auf und lässt sich durch Angebote der
Welt nicht mehr verführen. Was also die Autorität der Gekreuzigten zwischen ihm
und der Welt zunächst bewirkt, ist die Befreiung von der mechanischen Abhängigkeit
von Reiz und Reaktion, ist die Befreiung des Herzens für die Freiheit Gottes.
Dass dadurch nichts weniger als eine Neuschöpfung geschieht, stellt Paulus im
nachfolgenden Vers ausdrücklich fest; denn er schreibt da, dass weder
Beschneidung noch Vorhaut etwas gelte, dass also weder die Gesetzeserfüllung,
noch die Gesetzesübertretung etwas gelte, sondern nur eine Neuschöpfung: Wer
befreit ist vom mechanischen Reagieren auf Reize, wird ein neuer Mensch. Er
beginnt die Weite in seinem Herzen wahrzunehmen, die nicht sein durfte; das
Bersten der Fesseln zu erleben, die es zusammenschnürte; den Fluss fliessen zu
spüren, der versteinert und blockiert war. Wo das Herz in dieser Weise aufzuwachen
beginnt, bleibt es in der Gebrochenheit, in der Verlassenheit, im Schmerz des
Gekreuzigten; aber es realisiert genau darin, wie alles neu wird, wie sich die
Perspektive verändert, wie es die Welt mit den Augen Gottes betrachtet, wie dadurch
eine neue Welt geschaffen wird.
Die Autorität des Gekreuzigten, die Paulus zu dieser Befreiung führt, ist die Autorität
der Wahrheit. Weil er den Gekreuzigten in seinem Herzen trägt, ist er nicht nur von
gegenseitigen Machtansprüchen gegenüber der Welt befreit, sondern auch zu einem
wahrhaften Umgang mit diesen ermächtigt. Befreit zur Wahrheit nimmt er
Machtansprüche wahr, erfüllt sie manchmal und entzieht sich ihnen manchmal,
verstärkt sie manchmal und widersteht ihnen manchmal. Er tut dies nicht willkürlich
und nach Belieben, sondern er tut dies im freien Gehorsam gegenüber der Wahrheit
der Beteiligten der jeweiligen Situation. Mit der Autorität des Gekreuzigten im Herzen
kann er nicht anders als erfüllen, was diese ihm gebietet. Nicht um damit
Künstlichkeiten und Eitelkeiten zu zelebrieren, sondern um die Realität das werden
zu lassen, was sie in Wahrheit ist; denn das Herz, das zum Dienst an der Wahrheit
befreit ist, schafft mit seinem Tun einen Herzraum, in welchem auch andere
Menschen ihr Herz öffnen, in welchem auch andere Menschen an Herz, Körper und
Geist heil- und gesund werden können. Und dies ist offensichtlich der Sinn, den das
Tragen der Autorität des Gekreuzigten im Herzen hat: dass durch dieses Tun andern
Menschen und letztlich der ganzen Welt das Herz aufgeht und mit Gott im Herzen
eine herzliche Gemeinschaft unter den Menschen und mit der ganzen Schöpfung
entsteht.
Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unsres Herrn Jesus
Christus, durch das mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt. Der Gekreuzigte ist
für Paulus die Autorität im Herzen, derer allein er sich rühmt. Als Glaubende sind
auch wir dazu aufgerufen, den Kreuzweg zu beschreiten und den Gekreuzigten als
die Autorität in unsere Herzen zu lassen, derer allein wir uns rühmen. Unser Herz ist
ein Ort des Lichts und der Tapferkeit. Was auch immer wir an Schönem und
Hässlichem, an Freudigem und Schmerzvollem erleben, unser Herz schlägt für uns,
solange wir leben. Wenn wir ihm treu sind, strahlt das Licht Gottes in ihm auf und
ermächtigt uns, im Kampf gegen und um die Welt tapfer zu bleiben; denn es schafft
die Herzenswärme, die Güte, die Barmherzigkeit, in welcher wir und andere
diejenigen werden können, die wir und sie in Wahrheit sind. Und das ist das, was das
Herz offensichtlich begehrt; denn unruhig ist unser Herz nicht nur – wie Augustinus
meinte – bis es in Gott ruht, sondern auch bis die vielen verlorenen Herzen Ruhe in
Gott gefunden haben. Beten wir deshalb, dass Gott uns mit seinem Licht erleuchte
und wir tapfer den guten Kampf des Glaubens kämpfen, auf dass alle Menschen und
die ganze Schöpfung in ihrem Herzen froh werden. Amen.
Predigt vom 08. Januar 2006 in Wabern
Bernhard Neuenschwander