Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht wie die Welt gibt,
gebe ich euch. Euer Herz lasse sich nicht beunruhigen und verzage nicht !
Joh 14,27.
Liebe Gemeinde
Es ist mir eine grosse Ehre, am heutigen Sonntag hier bei Euch sprechen zu dürfen und
meinen Glauben an Gott und den Frieden, den er uns verheissen hat, mit Euch zu teilen.
Ich danke Euch, dass Ihr mir diese Ehre erweist, und ich danke Herrn Prof. Mineshige für
die grosse Arbeit, mich, der ich leider nicht in der Lage bin, japanisch zu Euch zu
sprechen, zu übersetzen.
Wenn ich hier bei Euch von Frieden spreche, dann habe ich gewiss auch den Weltfrieden
vor Augen, den grossen Shalom, von dem im Alten Testament immer wieder die Rede ist.
Ich möchte Eure Aufmerksamkeit jetzt jedoch nicht auf diesen Frieden lenken, sondern auf
den inneren, persönlichen Frieden. Der innere Friede ist gewiss nicht das Ende des
christlichen Glaubens. Aber er ist ein guter Anfang auf dem Weg zum Shalom.
Es braucht Mut, sich auf den Weg des Friedens zu begeben. Es braucht Mut, zu diesem
Weg wirklich zu stehen, und es braucht noch mehr Mut, sein Leben so einzurichten, dass
der persönliche Frieden tatsächlich wächst und man in seinem Auftreten und Handeln mit
andern Menschen Frieden ausstrahlt. Der Mut, den es braucht, ist der Mut, zu sich selbst
Sorge zu tragen.
Der Mut, zu sich selbst Sorge zu tragen, ist weder etwas Egoistisches noch etwas
Esoterisches. Wenn man zu sich selbst Sorge trägt, wird man früher oder später nicht
darum herumkommen, sein Leben in Gott zu verankern und im Einklang mit seinem Willen
zu leben. Ein solches Leben wird den Frieden suchen, welcher unabhängig von den
Lebensumständen, mit denen man konfrontiert ist, Güte, Klarheit und Zufriedenheit
schenkt; es wird den Frieden suchen, der trotz Kampf, Auseinandersetzung und Leid
unerschütterlich bleibt; es wird den Frieden suchen, aus der man die verschiedenen
Aufgaben, die einem das Leben stellt, anpacken kann. Wenn man Sorge zu sich trägt,
wird man sich früher oder später darum kümmern wollen, den Frieden Gottes zu erleben,
ihn zu leben und andern Menschen spürbar zu machen.
Genau diesen Weg geht auch das Johannesevangelium. Dieses Evangelium spricht nicht
in erster Linie vom grossen, weltweiten Shalom. Das Johannesevangelium beginnt bei der
Sorge des Einzelnen um sich. Es tut dies nicht, um dort stehen zu bleiben, sondern es tut
dies, um den Einzelnen zu einem echten, inneren Frieden zu bringen, der Ausstrahlung
hat, Standfestigkeit im Leiden gibt und eine Ressource ist, sich für den Weltfrieden
einzusetzen.
Ich möchte Euch dazu einen Gedanken vortragen, den Jesus vor seiner Gefangennahme
den Jüngern anvertraut hat und mit dem er diese zu einem angstfreien und souveränen
Leben ermächtigen will. Ich lese aus Joh 14,27.
Frieden lasse ich euch zurück, meinen Frieden gebe ich euch. Nicht wie die Welt gibt,
gebe ich euch. Euer Herz lasse sich nicht beunruhigen und verzage nicht !
Der Weg der Sorge um sich, den das Johannesevangelium zur Kultivierung des inneren
Friedens beschreitet, beginnt beim Glauben an Jesus. Jesus ist für das
Johannesevangelium der Mensch, der den Frieden Gottes verkörpert, ausstrahlt und lebt.
Für dieses Evangelium beginnt der Weg deshalb mit der Bezogenheit zu diesen
Menschen. Er beginnt mit dem Respekt, sich ernsthaft auf diesen Menschen einzulassen.
Er beginnt mit der Bereitschaft, sich der Ausstrahlung dieses Menschen auszusetzen und
sich von ihr formen zu lassen. Wo dies geschieht, beginnt der Friede Gottes, den Jesus
verkörpert, auf einem abzufärben. Er beginnt an einem zu arbeiten. Der Weg der Sorge
um sich, der Weg zum Frieden Gottes, beginnt in diesem Evangelium also damit, sich auf
die Ausstrahlung Jesu einzulassen.
Spürt man den Frieden Gottes zwar in der Bezogenheit auf den Menschen Jesus, jedoch
nur in seiner Nähe, dann ist er noch nicht wirklich in einem selber verwurzelt. Um auf den
Weg des Friedens zu gelangen, ist der Glaube an den Menschen Jesus ganz wichtig.
Aber wenn man nur in dessen Nähe Frieden spürt, kann noch viel Unfrieden in einem
selbst sein. Der Frieden, den man im Umfeld eines grossen Menschen spürt, kann einen
wie eine Zuckerglasur überdecken, die zwar „lieb und nett“ macht, jedoch viele bösen
Gefühle wie Hass, Zorn, Neid oder Gier im Herzen unberührt lässt. Eine solche Maske von
Nettigkeit und Höflichkeit tut einem selbst und tut auch den andern Menschen nicht
wirklich gut. Damit der Frieden Gottes in unserem Herzen wirklich Einzug halten kann,
braucht es mehr.
Jesus gibt in unserem Predigttext den Frieden unmittelbar bevor er gefangen genommen,
verspottet, gefoltert und gekreuzigt wird. Der Frieden, den er seinen Jüngern zurücklässt,
hat genau diese brutalen und gewalttätigen, also alles andere als friedlichen Aktionen vor
sich. Und trotzdem verheisst er vor diesem Grossen Kampf nichts weniger als seinen
Frieden. Die Pointe ist offensichtlich, dass der Frieden, den er seinen Jüngern hinterlässt,
nicht ein Frieden bleiben soll, den diese nur im vertrauten Zusammensein mit ihrem
Meister erleben sollen, sondern ein Frieden werden soll, der die Gewalttätigkeit und
Verlogenheit des Bösen durchdringt und mit seinem Feuer wie Kohlen durchglüht.
Es ist nicht einfach, im Angesicht von Bösem gut, im Angesicht von Gewalt friedfertig, im
Angesicht von Verlogenheit wahrhaftig zu bleiben. Aber Jesus hat genau dies gelebt. Er
hat Böses nicht mit Bösem vergolten. Er hat sich nicht zu Gewaltaktionen oder verlogenen
Spielen hinreissen lassen, sondern er ist dem Weg des Friedens Gottes sogar im
Angesicht seiner kommenden Kreuzigung treu geblieben.
Gefordert ist von den Jüngern vorerst nur, dies auf sich wirken zu lassen, dies
wahrzunehmen, dies zu realisieren. Mehr ist vorderhand gar nicht nötig. Es genügt, wenn
man, mit seinem Herzen wahrnimmt, wie der Frieden Gottes mit der Kreuzigung Jesu in
die Abgründe des Bösen dringt. Es genügt, wenn man diesen Frieden zu erkennen
beginnt, der Angst, Verzweiflung und Schuld nicht abspaltet und verleugnet, sondern sich
genau dieser Erfahrung aussetzt, aber durch diese hindurch zu dem Frieden Gottes
heranreift, der er immer schon gewesen ist. In diesem Prozess der Reifung des Friedens
wird alles Künstliche „Lieb und Nett“ abgestreift, wird der eigene Unfriede durch das Feuer
der Krise geläutert und der Frieden in einem geweckt, der nicht von aussen kommt und
aufgesetzt ist, sondern von innen her trägt und gelebt ist.
Ein derartiger Frieden hat nicht mehr Angst vor der Angst. Ein derartiger Friede kennt
seine Angst, aber er kennt auch den Drachen, der dieser Angst standhalten kann; er kennt
den Drachen, der dem Bösen in die Augen schauen kann; er kennt den Drachen, der um
das Gift des Bösen weiss, aber deswegen nicht weich wird und sich von ihm verführen
lässt: Es kennt den Drachen der allmächtigen Liebe.
Ein Frieden, der von diesem allmächtigen Drachen der Liebe beschützt wird, muss viel
Unrecht und Leid einstecken. Der Weg des Friedens ist kein leichter und angenehmer
Weg. Man kann sich dies nicht deutlich genug vor Augen halten. Das Leben Jesu und das
Leben der vielen Frauen und Männer, die als Martyrer des göttlichen Friedens gestorben
sind, bezeugen dies nachdrücklich. Aber ein solcher Weg wird aus der Kraft Gottes gelebt.
Ein solcher Weg hat deshalb auch die Kraft, Leid und Unrecht einzustecken. Er hat die
Kraft, dann, wenn er einstecken muss, gerade und aufrecht zu bleiben und sich nicht
verformen zu lassen. Es ist der Weg des Friedens, der trotz allem, was das Leben bringen
mag, dem Frieden treu bleibt, den Frieden bezeugt, lebt und ausstrahlt.
Diese Art von Frieden ist immer noch „nur“ ein innerer Frieden und nicht der Weltfrieden.
Das ist völlig wahr. Er ist deshalb immer nur der Anfang und nicht das Ende des Weges.
Die Arbeit am Shalom für die Welt bleibt eine Aufgabe. Aber es ist ein innerer Frieden mit
einem ausserordentlich grossen Potential. Spürt man ihn, entsteht eine Souveränität, eine
Wahrhaftigkeit, eine Freude gegenüber den Hochs und Tiefs des Lebens und die Kraft,
gegenüber dem Bösen nicht zu resignieren oder zu verzweifeln. Wenn man so Sorge um
sich trägt, dass der Friede Gottes in sich lebt, kann man immer wieder neu aus diesem
Frieden für diesen Frieden kämpfen.
Der Weg des Friedens wird auf diese Weise zu einem Weg der Ermächtigung. Er wird zu
einem Weg, Frieden nicht nur in der Nähe Jesu zu erleben, sondern Friede in sich selbst
zu tragen, auszustrahlen und andern Menschen spürbar zu machen. Der Weg der Sorge
um sich erweist sich damit als das, was er ist: als Weg der Sorge um den Frieden Gottes.
Bitten wir deshalb Gott, dass wir uns auf diesen Weg des Friedens einlassen, auf den uns
Jesus gerufen hat. Bitten wir ihn jedoch auch darum, dass wir diesen Frieden durch die
Abgründe des Bösen reifen lassen, auf dass wir dazu ermächtigt werden, Träger und
Verbreiter des göttlichen Friedens zu werden.
Amen.
Predigt vom 10. Juli 2005 in Kobe, Japan
Bernhard Neuenschwander