Sie zogen weiter durch Phrygien und das galatische Land, da es ihnen vom heiligen Geist verwehrt wurde, das Wort in der Provinz Asia zu verkündigen. Kurz vor Mysien versuchten sie, nach Bithynien weiterzuziehen, doch der Geist Jesu liess es nicht zu. Da zogen sie an Mysien vorbei und kamen nach Troas hinab. In der Nacht nun hatte Paulus eine Vision: Ein Mann aus Makedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Makedonien und hilf uns! Kaum hatte er die Vision gehabt, setzten wir alles daran, nach Makedonien hinüberzugelangen, in der Überzeugung, dass Gott uns gerufen hatte, den Menschen dort das Evangelium zu verkündigen. Apg 16,6-10
Wird Gott gegenwärtig, geschieht dies in Raum und Zeit. Gott ist als Geheimnis der Gegenwart zwar unfassbar. Die Freiheit dieses Geheimnisses ist nicht Bedingungen unterworfen, frei von jedem Dies und Das. Mit Worten lässt sie sich nicht begreifen, und doch ist sie jeden Moment ganz unmittelbar gegenwärtig. Die Unverfügbarkeit Gottes macht jeden Augenblick einmalig und unwiederholbar. Sie gibt aller Materie ihr Eigenes, lässt ihr ihre Eigendynamik und greift nicht ein – weder in den Lauf dieses Universums, noch in die Evolution dieses blauen Planeten, noch in das Tun der Menschen. Gott ist nicht der grosse Vater, der alles nach seinem guten Willen steuert, nicht die grosse Mutter, die zu allem Sorge trägt. Gott ist mit seiner Liebe und Weisheit viel unmittelbarer gegenwärtig als menschliche Wunschvorstellungen: als Geheimnis des Hier und Jetzt, als Freiheit des Augenblicks in aller Materie.
Das menschliche Erkennen und Gestalten dieser Präsenz Gottes in allem, was es gibt, ist ein Weg, der immer grössere Kreise zieht und nie abgeschlossen ist. Er beginnt vielleicht ganz klein und unauffällig in einem Moment, in welchem ich ergriffen bin und der Himmel für einen Augenblick geöffnet ist. Wie könnte das Lächeln eines kleinen Kindes nicht die Gegenwart verzaubern? Auf einmal bin ich im Hier und Jetzt, und das Wunder des Augenblicks ist in diesem Kindergesicht gegenwärtig. Doch eine solche Berührung weckt die Sehnsucht. Das Geheimnis der Gegenwart ist ein Gravitationspunkt. Er birgt die Dichte der Ewigkeit. Bin ich ihm fern, mag seine Wirkung gering sein. Doch komme ich ihm näher, wird seine Attraktivität stärker und seine Gegenwart in den Dingen deutlicher. Ich beginne zu begreifen, dass der Moment viel mehr umfasst als das, was gerade vor meinen Augen liegt. Die Gegenwart besteht aus vielen Kreisen. Da ist meine Körperlichkeit, ihre Biologie, ihre Chemie, ihre Physik, da ist mein Alltag samt aller Technologien, die ich nutze, da ist aber auch das soziale und gesellschaftliche Leben, das ich führe, die Gesellschaft, in der ich lebe, die persönliche und kollektiven Geschichte, die mich durchdringt, und da ist schliesslich mein eigenes Wahrnehmen, Fühlen und Reflektieren dessen, was diesen Moment ausmacht. All diese Kontexte sind wie eine Vielzahl von Kreisen im Geheimnis dieses Augenblicks präsent. Sie alle atmen Gottes Gegenwart. Gehe ich den Weg in die Gegenwart Gottes, entdecke ich davon ständig mehr. Das aber macht den Augenblick immer erfüllter und mein Leben immer dichter. Wie könnte ich mich da der Attraktivität dieses Wegs entziehen?
Der Weg in die Gegenwart ist kein kultureller Überbau, sondern evolutionsbiologisch angelegt. Pflanzen und Tiere leben im Moment. Wache Präsenz ist ihr Vorteil im Überlebenskampf. Wie könnte der homo sapiens sapiens nicht auch davon bestimmt gewesen sein? Mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins ist der Weg in die Gegenwart indes kompliziert geworden. Die Komplexität der Kontexte wird bewusst, Alternativen entstehen, der Weg in die Gegenwart wird zu einer Option unter anderen. Doch die mystischen Traditionen der grossen Religionen sind diesen Weg weiter gegangen, haben die wachsenden Kontexte integriert, ihre Sprachspiele, ihre Kunstformen, ihre Lebenspraxis entwickelt, und dabei doch das unfassbare Geheimnis der Gegenwart im Blick behalten. Die Bibel mit ihrem Alten und ihrem Neuen Testament gibt davon ein beredtes Zeugnis, unser Predigttext ein Beispiel.
Berichtet wird hier, wie Paulus und seine beiden Begleiter Silas und Timotheus ihren Weg in die bedingungslose Gegenwart Gottes gehen. Der Gnade Gottes anvertraut, sind Paulus und Silas in Antiochia aufgebrochen, um Juden und Nichtjuden diesen Weg nahezubringen (Apg 15,40). Im kleinasiatischen Lystra stösst Timotheus zu ihnen (Apg 16,1-6). Zu dritt stehen sie nun vor der Aufgabe, diesen Weg so zu gehen, dass sie ihn mit weiteren Kreisen von Menschen teilen können. Erzählt wird nun, wie sie ihren Weg suchen.
Vermutlich hat Paulus zunächst die Absicht, direkt nach Ephesus, der bedeutenden Küstenstadt an der Ägäis und Hauptstadt der Provinz Asia, zu ziehen und dort eine christliche Gemeinde zu gründen. Das würde zu seiner Strategie passen, zuerst in den Städten eine Basis zu schaffen und dann das umliegende Land für seine Mission zu gewinnen (vgl. Apg 14,6f; 16,4). Erzählt wird indes, dass sie nordwärts in Richtung Phrygien und das galatische Land ziehen, da es ihnen, so heisst es V6, vom heiligen Geist verwehrt wird, das Wort in der Provinz Asia zu verkünden. Praktische Hindernisse oder Widerständen mögen eine Rolle gespielt haben, doch finden sie keine Erwähnung. Der Hinweis macht vielmehr dies deutlich: Paulus und seine Begleiter sind jeden Moment gefordert, ihren Weg in die Gegenwart Gottes zu suchen. Dieser Weg ist nicht ein Weg, der durch das gesetzte Ziel definiert ist, sondern der Weg, der ihnen die Gegenwart Gottes offenlässt. Ihre Herausforderung besteht darin, so im Moment zu sein, dass sie fortwährend neu erkennen, worin diese Offenheit besteht und wohin ihr Weg führt.
Erzählt wird, dass sich dasselbe noch ein zweites Mal wiederholt (V7f). Zunächst haben sie den Plan, weiter nordwärts nach Bithynien, dem Gebiet am Schwarzen Meer, zu ziehen. Doch der Geist Jesu lässt auch dieses Vorhaben nicht zu. Vom Geist Jesu ist im Neuen Testament nur an dieser Stelle die Rede. Ein Unterschied zum heiligen Geist, der beim vorderen Kurswechsel genannt worden ist, ist nicht anzunehmen. Wieder sind sie also herausgefordert, die Information der Gegenwart Gottes zu vernehmen und ihr Handeln entsprechend anzupassen, wieder macht ihnen der Geist nur deutlich, was sie nicht tun sollen, und überlässt ihnen die Suche nach dem Weg, der ihnen offensteht. Sie ziehen deshalb an Mysien vorbei und gehen gleich nach Troas, einer Küstenstadt im Nordosten der Agäis, hinunter.
Zweimal ändern Paulus und seine Begleiter also ihre Reiseroute, weil sie merken, dass der Weg in die Gegenwart Gottes anders verlaufen will als sie im Sinn gehabt haben. In Troas erfolgt nun eine dritte Intervention, die ihnen ihren Weg anzeigt (V9f). In der Nacht hat Paulus eine Vision. Ob sie ein Traum ist, wird so wenig klar wie bei der Vision, die Petrus gehabt hat (Apg 10,17), doch wie bei diesem öffnet sie die Tür zu einem mutigen, nächsten Schritt. Paulus sieht nämlich einen Mann aus Makedonien. Woran er seine Herkunft erkennt, wird nicht gesagt. Offensichtlich gibt es für ihn keine Zweifel. Der Mann steht da und bittet ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Für Paulus ist die Botschaft der Vision sogleich klar. Er und seine Gefährten setzen alles daran, ein Schiff zu finden, das sie auf die Westseite der Ägäis bringt, überzeugt, dass sie von Gott gerufen sind, um dort das Evangelium zu verkünden. An dieser Stelle verlässt Lukas das distanzierte Erzählen in der 3. Person und wechselt unvermittelt in den Wir-Stil. Ist er bei der Überfahrt nach Mazedonien zum Team des Paulus gestossen? Auf jeden Fall liegt ihm der Sprung der Mission von Asien nach Europa am Herzen. Noch wichtiger aber ist ihm, diesen Sprung als Weg zu markieren, den Paulus in der Gegenwart Gottes empfangen hat.
Die Fortsetzung wird dann von der erfolgreichen Überfahrt und dem turbulenten Aufenthalt in Philippi erzählen, einer Stadt im ersten Bezirk von Mazedonien, einer römischen Kolonie (Apg 16,11ff).
Besinnen wir uns heute auf dieses Bibelwort, werden wir dazu aufgefordert, über das Gehen des Weges in die Gegenwart Gottes nachzudenken. Wie kommen wir auf diesen Weg? Wie bleiben wir auf ihm?
Es mag zunächst irritierend klingen, und dennoch ist es so: Dieser Weg liegt viel näher als jeder andere Weg. Es bedarf keiner Mühe, ihn zu gehen, keines Aufwands, ihn zu finden. Völlig natürlich und selbstverständlich steckt er in aller Materie, in allen Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren, in allen Menschen. Alles, was es jemals gegeben hat und jemals geben wird, ist durchdrungen vom Geheimnis der Gegenwart und offenbart diesen Weg. Der Weg in die Gegenwart Gottes ist der Weg in die Unmittelbarkeit des Augenblicks. Paulus beschreibt diesen Weg als Weg der Gnade, also als Weg, der bedingungslos mit seiner ihm eigenen Information gegenwärtig ist. Dieser Weg ist ihm näher als er sich selbst. Deshalb stellt er seine Mission, ja sein ganzes Leben, in ihren Dienst, deshalb erweitert er fortwährend seinen Wirkungskreis, deshalb integriert er immer neue Kontexte. Er will nichts anderes als diesen Weg gehen, ihn immer tiefer erforschen und immer breiter mit anderen Menschen, ja allem, was es gibt, teilen. Der Weg in die Gegenwart Gottes ist der Weg in das Geheimnis des Daseins. Die Religionen und Philosophien der Menschen suchen ihn zu verstehen und zu kultivieren. Doch er liegt unmittelbar unter meinen Füssen. Ich verstehe ihn genau dann und dort, wo ich ihn im Hier und Jetzt annehme und gehe.
So unmittelbar dieser Weg gegenwärtig ist, so fein muss er auch beachtet werden, um auf ihm zu bleiben. Der Weg in die Gegenwart Gottes ist weder menschlicher Beliebigkeit noch Zielorientiertheit unterworfen. Ihn zu gehen, heisst stattdessen, jeden Moment in Verbindung mit der bedingungslosen Gegenwart Gottes und ihrer Information zu stehen. Paulus und sein Begleiter haben freie Hand für ihre Reise, und sie setzen sich ihre Reiseziele selbst. Dennoch bleiben sie ihrer Mission nur treu, indem sie vernehmen und respektieren, wo ihnen vom heiligen Geist bzw. vom Geist Jesu eine Grenze gesetzt wird und wo ihr Weg offensteht. Bin ich in der Gegenwart Gottes, darf dies, was ich gerade tue, kein Selbstläufer werden. Ständig muss ich für Korrekturen offenbleiben, ständig muss ich bereit sein, mich neu zu justieren. Ohne diese Wachheit verliere ich den Weg in die Gegenwart Gottes, lasse mich von meinen Gewohnheiten verführen und verstricke mich in meine Ziele. Ich bleibe nur auf diesem Weg, wenn ich wahrnehme, wo ich mich verirre, die Konsequenzen ziehe, danach suche, wo ich wieder in der Freiheit der Gegenwart Gottes bin, und dann diesen Weg gehe. So unterwegs zu sein, ist ein Prozess der selbstkritischen Reflexion, der jeden Moment neu beginnt.
Dennoch dominiert den Weg in die Gegenwart Gottes nicht die Unsicherheit, sondern die Freude, ihn zu gehen. Die Grenzen, die vor Abwegen schützen, wollen beachtet sein, und die Warnung, dass etwas nicht stimmt und in die Verstrickung führt, will ernst genommen werden. Doch im Zentrum steht der Weg, der tiefer in die Gegenwart Gottes führt, weitere Kreise integriert, mehr Menschen verbindet. Diesen Weg kann man nur finden und gehen. Paulus und seinen Gefährten stehen in Troas eine Menge unterschiedlicher Wege für seine Weiterreise offen. In der Nacht wird ihm jedoch auf einmal klar, auf welcher Strasse die Ampel auf Grün steht und wohin die Reise geht. Ihm manifestiert sich die Einsicht als Vision und Aufforderung: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns! Die Gegenwart Gottes kristallisiert ihre Information in mancherlei Zeichen. Gemeinsam ist ihnen indes die Gewissheit, dass ich auf diesem Weg in der Freiheit des Moments bleibe, dass ich ihre Liebe und Weisheit tiefer verstehe und dass ich sie mit einem weiteren Kreis von Materie, Leben und Menschen teilen kann. Diese Gewissheit lässt sich jedoch nicht erzwingen oder willentlich herbeiführen. Sie ist ein Geschenk des Moments, das ich in voller Selbstverantwortung empfangen und dankbar und freudig leben kann.
Der Weg in die Gegenwart Gottes, der Weg im Hier und Jetzt zu leben, ist natürlich, einfach und unmittelbar gegenwärtig. Wir alle können ihn beschreiten, wir alle können auf ihm bleiben. Dies verlangt von uns allerdings, dass wir jeden Moment als Geschenk empfangen, dass wir seine Information respektieren und dass wir unser Leben von dieser bestimmen lassen. Der Weg in die Gegenwart Gottes ist unsere Freiheit und unsere Freude, die uns jeden Moment glücklich macht. Beten wir also, dass wir uns auf diesen Weg kommen und dass wir ihm treu bleiben. Amen.
Predigt vom 25. Mai 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander