Höret ein andres Gleichnis: Es war ein Hausherr, der pflanzte einen Weinberg und zog
einen Zaun darum und grub eine Kelter darin und baute einen Turm; und er
verpachtete ihn an Weingärtner und zog ausser Landes. Als aber die Zeit der Früchte
herangekommen war, sandte er seine Knechte zu den Weingärtnern, um seine Früchte
in Empfang zu nehmen. Und die Weingärtner ergriffen seine Knechte und schlugen
den einen, den andern töteten sie, den dritten steinigten sie. Wiederum sandte er andre
Knechte hin, mehr als die ersten, und sie taten ihnen ebenso. Zuletzt aber sandte er
seinen Sohn zu ihnen, indem er sagte: Sie werden sich vor meinem Sohne scheuen.
Als jedoch die Weingärtner den Sohn sahen, sagten sie untereinander: Dies ist der
Erbe; kommet, lasset uns ihn töten und sein Erbgut behalten! Und sie ergriffen ihn,
stiessen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn. Wenn nun der Herr des Weinbergs
kommt, was wird er mit diesen Weingärtnern tun? Sie sagen zu ihm: Er wird sie als
Übeltäter übel umbringen und den Weinberg an andre Weingärtner verpachten, die ihm
die Früchte zu ihrer Zeit abliefern werden. Jesus sagt zu ihnen: Habt ihr nie in den
Schriften gelesen: Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein
geworden; durch den Herrn ist dieser es geworden, und er ist wunderbar in unsern
Augen ? Deshalb sage ich euch: Das Reich Gottes wird von euch genommen und
einem Volk gegeben werden, das dessen Früchte bringt. Und als die Hohenpriester
und Pharisäer seine Gleichnisse gehört hatten, merkten sie, dass er von ihnen redete;
und sie suchten ihn festzunehmen, fürchteten aber die Volksmenge, weil sie ihn für
einen Propheten hielt.
Mat 21,33-46
Liebe Gemeinde
Was könnte den grossen Prozess zwischen Gott und dem Kosmos aufhalten ?! Alles
ist am Vergehen und Entstehen; alles, was wir an organischen oder anorganischen
Strukturen und Ordnungen kennen, ist am Zerfallen und Werden. Ob es uns gefällt
oder nicht: das grosse Gesetz vom „Sterben und Werden“ macht unsere Wirklichkeit
aus und lässt sich durch nichts ausser Kraft setzten. Gott und Kosmos bleiben dabei
stets aufeinander bezogen: So wie der Kosmos in Gott hinein stirbt und aus Gott
heraus neu geboren wird, so stirb auch Gott in den Kosmos hinein und wird aus dem
Kosmos neu geboren. Beide, sowohl Gott als auch Kosmos, existieren nur in diesem
Prozess des sich ineinander Gebens und des sich auseinander Werdens, ohne dass
beide Seiten je miteinander verschmelzen würden oder dass die eine Seite je von der
andern getrennt werden könnte. Zusammen bilden sie den neutralen Raum dessen,
was Meister Eckehart „Gottheit“ nennt, den Kreis also, der beide Seiten zusammenhält
und doch in nichts anderem besteht als in diesem grossen Prozess zwischen beiden
Seiten.
Es tut gut, sich das immer wieder in Erinnerung zu rufen, und es tut gut, sich immer
wieder in diesen Prozess hineinzugeben und aus ihm neu zu werden. Mit jedem Mal
legen wir etwas von all dem ab, was wir meinen festhalten zu müssen, und mit jedem
Mal werden wir ein wenig freier und beweglicher für all das, was in diesem Prozess
entstehen will. Wir verlieren unsere Ängste und Sorgen, und wir gewinnen Vertrauen
und Zuversicht. Natürlich können uns die erfahrenen Widerstände gegen diesen
Prozess immer noch schmerzen, und natürlich können wir uns immer noch kritisch
fragen, wie wenig nütze ich bin (vgl. Hilde Domin, Wie wenig nütze ich bin, in: dies.
Gesammelte Werke 30f). Aber wir spüren dann auch, dass der grosse Prozess
zwischen Gott und Kosmos viel grösser ist als alles, was wir Menschen beeinflussen
können und dass es völlig ausreichend ist, wenn wir nur tun, was wir in diesem Prozess
zu tun haben. Der grosse Prozess trägt uns, indem wir in ihm sind, und zugleich genügt
es, dass wir ihn tragen, indem wir ihn wahrnehmen und verwirklichen. Denn dann
gehören wir – um die Worte unseres Gleichnisses aufzunehmen – zum Volk, das die
Früchte des Reiches Gottes bringt.
Unser Gleichnis spricht auch von dem grossen Prozess zwischen Gott und Kosmos. Es
tut dies jedoch in einer einfachen metaphorischen Sprache. Es spricht nämlich von
einem Hausherrn, der wie beim letzten Gleichnis Weinbauer ist und alles dafür getan
hat, dass sein Rebberg fruchtbar ist: er hat den Rebberg gepflanzt, hat ihn mit einer
Mauer geschützt, eine Kelter für die Trauben bzw. den Wein in den Boden gehauen,
einen Wachturm gebaut und hat ihn Pächtern übergeben, die den Rebberg besorgen
sollen, während er selber weggereist ist. Erst viel später (V 43) wird im Gleichnis
deutlich gemacht, dass das, was der Weinbauer getan hat, für das Reich Gottes steht:
Für das Ineinander von Gott und Rebberg, das Ineinander, das die Arbeit der Pächter
trägt und zugleich von ihrer Arbeit getragen wird. Denn das Reich Gottes geschieht
offensichtlich, indem Gott und Rebberg zusammenwirken, Früchte hervorbringen und
die Pächtern Arbeit und Lohn erhalten, aber auch verlangt wird, dass die Pächter ihre
Arbeit verrichten und das Zusammenwirken von Gott und Rebberg kultivieren, hegen
und pflegen.
Das ist die für das Gleichnis vorausgesetzte Rahmenerzählung. Das Gleichnis erzählt
nun aber, dass die Geschichte ganz anderes gelaufen ist. Als nämlich die Zeit der
Ernte nahte und der verreiste Weinbauer seine Knechte auf den Weinberg schickte, um
die Früchte bzw. den üblichen Pachtzins einzufordern, ergriffen die Pächter die
Knechte, prügelten den einen, töteten den andern und steinigten den dritten. Anstatt
also dem Ineinander von Gott bzw. Weinbauer und Rebberg treu zu bleiben,
beanspruchen die Pächter den Rebberg als ihren Besitz und beseitigen die Vertreten
des Weinbauern. Das ist allerhand ! Man muss nicht psychoanalytisch geschult sein,
dass einem hier die Ohren klingeln und man an die Geschichte von Ödipus zu denken
beginnt (…so nämlich wie Ödipus seinen Vater umbringt und die Mutter heiratet,
suchen die Pächter den Weinbauern zu beseitigen und den Rebberg in Besitz zu
nehmen…); denn das Unrecht ist offensichtlich. Aber es lohnt sich dennoch, genau
hinzuhorchen und wahrzunehmen, was hier geschehen ist.
An die Stelle des fliessenden Ineinanders von Sterben und Werden, von Verlieren und
Gewinnen ist offensichtlich das Festhalten von Besitz getreten. Die Pächter, die den
Rebberg weder besitzen noch eingerichtet haben, wollen selber die Position des
Weinbauern einnehmen und niemandem Rechenschaft ablegen. Sie wollen eine in sich
geschlossene, klare Identität als Besitzer sowie dessen Status haben und über etwas,
den Rebberg, frei verfügen können. Darin steckt natürlich ein Machtanspruch, der nicht
nur sie selbst aufs Podest stellt, sondern ihnen auch den Rebberg als Objekt preisgibt.
Niemand soll ihnen mehr dreinreden können, was sie mit dem Rebberg und seinen
Früchten tun dürfen ! Dass dieses Verhalten und sein patriarchalisches Muster
topaktuell ist, bedarf wohl kaum grosser Erläuterung. Wer kennte sie nicht, die
Egoisten, welche den ihnen anvertraute Teil der Welt meinen ausbeuten und
ausnutzen zu dürfen ? Sei es im Umgang mit Menschen, mit Wissen, mit Macht oder
sei es generell im Umgang mit Ressourcen ? Dass sie selbst als Subjekt auf diese
Weise ihren eigenen Ansprüchen unterworfen sind – das lateinische Wort sub-jectum
heisst bezeichnender Weise: das Unterworfene – und nun mehr „Antreiber“ ihrer selbst
werden, die immer gestresster und unzufriedener ihren eigenen Begehrlichkeiten
nachrennen, ist dann nur die andere Seite der Medaille.
Was aber noch viel schlimmer ist, ist, dass Menschen, die solche Machtansprüche
stellen, bereits gewalttätig sind: Indem sie vergessen, dass sie nur Pächter sind, die
vom wahren Eigentümer zum Dienst am Rebberg bestellt sind und sich statt dessen als
dessen Eigentümer aufspielen, sind sie zunächst gewalttätig gegenüber dem
Weinbauern, im Weiteren aber ebenso gegenüber dem Rebberg und sich selbst.
Indem sie nämlich den Weinbauern als rechtmässigen Besitzer gewaltsam bekämpfen,
entreissen sie den Rebberg aus dem Ineinander mit seinem Schöpfer und fixieren sich
selbst in der schuldhaften Rolle des Eroberers. Die Gewalttätigkeit, die hier das
kosmische Gewebe eigenmächtig trennt, ist heute nicht minder topaktuell. Wir kennen
sie, die Gewalt derer, die etwas – was auch immer dieses etwas sein mag – haben
(erfahren, wissen, besitzen) wollen, in Familien und Politik, im Kleinen und im Grossen,
aber auch in der Arroganz der modernen Leugnung des Ineinanders von Gott und
Kosmos.
In unserem Gleichnis reagiert der Weinbauer auf die Gewalttat der Pächter mit
ausserordentlich grosser Geduld. Obwohl er, wie am Schluss des Gleichnisses deutlich
wird, durchaus die Macht hat, den Pächtern den Rebberg wegzunehmen, verzichtet er
vorerst darauf, schickt statt dessen weitere Knechte und, weil es diesen gleich ergeht
wie den vorderen, schliesslich sogar seinen Sohn und erwartet, dass sie wenigstens
diesen respektieren werden. Doch er irrt sich. Die Pächter wittern vielmehr ihre
Chance, den Rebberg endgültig in ihren Besitz zu nehmen. Sie sagen sich nämlich,
dass sie dann, wenn sie den Erben umbringen, dessen Erbschaft in Besitz nehmen
dürfen. Während also der Weinbauer glaubt, mit seiner Intervention das Verhalten der
Pächter ändern zu können, radikalisiert er damit bloss ihre Gewalttätigkeit. Die Pächter
verändern ihr Verhalten nicht, sondern zementieren es gegenüber dem höheren
Einsatz des Weinbauern nur noch. Uns heute stellt dies vor die bange Frage, ob die
Intervention des Weinbauern deshalb eine Fehlintervention war. Jedenfalls hat
offensichtlich die Sendung des Sohnes nicht den erhoffen Frieden gebracht, sondern
die begonnene Gewaltspirale nur angekurbelt.
Hier nun unterbricht das Gleichnis seine Erzählung. Erzählt wird statt dessen, dass
Jesus mit den Hörenden über den Ausgang des Gleichnisses diskutiert. Die Sache ist
allerdings für alle klar: Der Weinbauer wird den Pächtern den Rebberg wegnehmen
und ihn einem Volk geben, das mit seinem Tun die Früchte des Rebbergs bringt. Die
Pächter wird er zudem grausam bestrafen. Dass der Weinbauer die Macht dazu hat,
wird selbstverständlich vorausgesetzt. (Heute unterstellt man dem Vater diese Macht
nicht mehr ebenso selbstverständlich; wir haben uns daran gewöhnt, dass Kinder
parentifiziert sind und Elternersatzrollen übernehmen…) Dabei wird aber auch klar,
dass die Pächter für Jesus die Hohepriester und Pharisäer sind, im weiteren Sinn aber
das Volk Israel als Ganzes. Das Gleichnis erhält so eine klar heilsgeschichtliche und
anti-israelische Stossrichtung. Es macht nämlich deutlich, dass Gott in seinem Prozess
mit dem Kosmos zunächst Israel als Pächter seines Weinberg einsetzte, dass dieses
aber seine Knechte, nämlich seine Propheten, und schliesslich sogar seinen Sohn,
nämlich Jesus Christus, umbrachte, dass es deshalb enterbt und bestraft wird und
dass der Rebberg dem Volk, das dessen Früchte bringt, nämlich das den Willen Gottes
tut, gegeben wird. So musste bereits die matthäische Gemeinde das Gleichnis
verstanden haben, und so wurde es auch in der Kirchengeschichte oft gedeutet.
Auch wenn die konkrete heilsgeschichtliche Situation der matthäischen Gemeinde
offensichtlich in diesem Gleichnis reflektiert wird, so spiegelt sich in ihm doch noch eine
viel grössere Dimension: die Entscheidung von Menschen, gewalttätig zu werden und
das Ineinander von Gott und Kosmos zu zertrennen, sich sodann – um mit Descartes
zu sprechen – zum maître et possesseur de la nature, zum Herrscher und Besitzer der
Welt aufzuspielen, sich selbst im Dienst dieser Macht zu subjektivieren, d.h. zu
unterwerfen, und Gott als Gott der Welt zu beseitigen und die Welt als Welt ohne Gott
zu behaupten.
Liest man das Gleichnis mit dieser kosmologischen Tiefe, dann kritisiert es nicht nur
Israel, sondern jeden Versuch, Gott und Kosmos von einander zu trennen, um sich
selbst aufgrund eigener Besitzansprüche als Profiteur dieser Trennung zu etablieren.
Die anti-jüdische Spitze wird auf diese Weise nicht aufgehoben, aber so breit, dass es
unmöglich wird, nur Israel als Sündenbock hinzustellen. Statt dessen beginnt man
dann aus dem Gleichnis zu vernehmen, dass Israel und wir alle lernen müssen, uns in
das Ineinander von Gott und Kosmos hineinzugeben und unser Leben aus diesem
Ineinander heraus zu leben; wir beginnen zu lernen, in dem Ineinander von Gott und
Kosmos zu vibrieren wie eine Saite; wir beginnen zu lernen, aus diesem Vibrieren den
Prozess von Vergehen und Entstehen wahrzunehmen, zu gestalten und zum Klingen
zu bringen.
Ebenso wie eine Saite nur klingen kann, wenn sie richtig gespannt ist und den nötigen
Raum zum Schwingen hat, müssen auch wir als Pächter zwischen Weinbauer und
Rebberg richtig gespannt sein und unbefangen werden gegenüber Besitz, Wissen und
Wollen. Je mehr uns dies gelingt, desto schwingungs- und resonanzfähiger, aber auch
desto beweglicher und kreativer im Prozess zwischen Gott und Kosmos werden wir.
Fronten zwischen Gegnern werden auf diese Weise aufgebrochen, Identitäten von
Gruppen, Kulturen und Menschen weicher, das Gewebe des Kosmos luftiger und
leichter und wir als Menschen gewaltloser und friedfertiger. Einfach weil wir uns
weniger an unserem Haben festhalten und mit unserer Welt, mit andern Menschen, mit
uns selber freier vibrieren können.
Dies freilich ist der Anfang eines ganz anderen Lebens: Es ist das Leben, dem Gott
bzw. der Weinbauer sein Reich bzw. seinen Rebberg anvertrauen will. Es ist dies
nichts anderes, als was natürlicherweise zwischen Gott und Rebberg geschehen will.
Die Pächter, die sich als Besitzer aufgespielt haben, werden das Eingreifen des
Weinbauern als Strafe erleben und alles, was sie hatten, verlieren; die Pächter jedoch,
die immer bloss Pächter waren, werden darin die göttliche Gnade erkennen, in ihr
vibrieren, kreativ werden und viele Früchte bringen. Es ist also nicht so, dass der
Weinbauer bloss seinen Besitz besser verteilt (und damit Gefahr laufen würde, dass
sich die Geschichte wiederholen würde). Vielmehr gibt er sein Reich denen, die sich
nicht am Haben orientieren, sondern aus der Vibration mit ihm und dem Kosmos den
Prozess des Vergehens und Werdens sehen und gestalten. Beten wir deshalb, dass
wir der Versuchung widerstehen, den uns anvertrauten Rebberg gewaltsam in
Beschlag zu nehmen und dass wir statt dessen die Vibration zwischen Gott und
diesem Rebberg vernehmen und anfangen, aus dieser Vibration tätig zu werden.
Amen.
Predigt vom 15. Oktober 2006 in Wabern
Bernhard Neuenschwander