Er wurde gekreuzigt aus Schwachheit, aber er lebt vermöge der Macht Gottes; denn
auch wir sind schwach in ihm, aber wir werden mit ihm leben vermöge der Macht
Gottes gegen euch. 2Kor 13,4
Liebe Gemeinde
Gekreuzigt aus Schwachheit, leben aus der Macht Gottes. Das Zusammenspiel von
Schwachheit und Macht, von der Paulus hier in bezug auf den gekreuzigten Christus,
aber dann auch in bezug auf uns Glaubende spricht, ist keineswegs so einfach, wie
es auf den ersten Blick den Anschein machen kann. Es geht ihm nicht darum, wie
dies in der Kirchengeschichte schon allzu oft getan wurde, den Menschen in seiner
Menschlichkeit für nichtig und Gott in seiner Göttlichkeit für allmächtig zu erklären.
Paulus verteilt Schwachheit und Macht nicht in dieser simplen Weise auf Menschen
und Gott. Dies könnte für seine Adressaten als allzu leichtfertige Rechtfertigung
seiner Schwäche aufgefasst werden.
Paulus schreibt nämlich von Schwachheit und Macht in Zusammenhang einer
Ankündigung seines Besuchs in Korinth. Von ihm, dem Apostel Christi, erwarten die
Korinther, dass er sich durch machtvolle Worte und Taten beweise; dass er sich
besonderer Fähigkeiten und Kenntnisse zu rühmen habe und plausibel machen
könne, dass man ihn zu recht als Apostel Christi akzeptiere. Gefordert von den
korinthischen Ansprüchen muss er erläutern, wie Schwachheit und Macht nach
seinem Verständnis zusammengehören. Ein feiger Rückzug auf die eigene
Schwäche liegt dabei ebenso wenig drin wie ein trotzig-arrogantes Demonstrieren
eigener Stärke. Er muss statt dessen zeigen, wie Schwachheit und Macht ineinander
verwoben sind, ohne der Verschmelzung beider das Wort zu reden.
Es wäre ein Leichtes, genau in diese Falle zu tappen. Wie oft sind es gerade die
Schwachen, die Kranken, die Opfer, die auf ihre Umwelt die grösste Macht ausüben!
Indem sie überdimensionierte Hilfe erwarten; indem sie es verstehen, ihrer
Umgebung permanent ein schlechtes Gewissen zu vermitteln; indem sie in
unersättlicher Weise die Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit Anderer ausnutzen…
Wo immer dies geschieht, entwickelt die Schwachheit eine Macht, die unter dem
Mantel ihrer Hilflosigkeit manchmal gar nicht leicht zu fassen ist, deswegen aber
umso schamloser um sich greift. Freilich ist dies nicht die Macht, die Paulus im
Zusammenhang der Schwachheit meint. Ihm geht es nicht um die Macht der
Schwachheit.
Gekreuzigt aus Schwachheit, leben aus der Macht Gottes. Paulus rollt das Thema
vom gekreuzigten Christus her auf. Er setzt nicht bei einer alltäglichen Erfahrung an,
sondern bei seiner Erfahrung von Christus: Gekreuzigt wurde Christus aufgrund
seiner Schwachheit. Schwachheit meint hier weit mehr und anderes als den Mangel
an Fähigkeiten. Christus ist nicht schwach, weil ihm diese oder jene Fertigkeit oder
Kenntnis fehlt. Schwach ist er einzig und allein, weil er ein vergängliches Wesen ist.
Als Mensch ist Christus ein Körperwesen, das von seiner Biologie, seiner
Psychologie, seiner Gesellschaft und Kultur geprägt ist, das durch die Bedingungen
seiner Zeit begrenzt ist und das nichts an Absolutheit und Unvergänglichkeit an sich
hat. Paulus ist sich dessen gut bewusst, dass Christus wie jedes Phänomen dieser
Welt ohne absoluten Boden, ohne letzten Grund, ohne substantielle Tiefe seine Zeit
hat und wieder vergeht. Diese elementare Tatsache bezeichnet er als Schwachheit.
Schwachheit ist für Paulus das unhintergehbare Zeichen von Weltlichkeit, einer
Weltlichkeit, der Christus – das Kreuz ist hierfür der radikalste Ausdruck – voll und
ganz unterworfen ist. Von dieser Schwachheit Christi kommt Paulus her.
Allerdings interessiert sich Paulus für diese Schwachheit des Gekreuzigten, weil sich
in ihr die Macht Gottes erweist. Nicht als Gegenmacht, die die Schwachheit beseitigt;
nicht als triumphale Demonstration, die jeden Widerstand platt wälzt; und auch nicht
als Behauptung, die man als Glaubender für wahr halten muss. Sondern als Macht,
die durch die Tür der Schwachheit scheint; als Fels, der standhaft bleibt, wenn sich
der Gekreuzigte nicht mehr selber tragen kann; als seine innere Gradheit und
Aufgerichtetheit, wenn er verspottet, verletzt und gekreuzigt wird. Es ist die Macht der
Auferstehung im Gekreuzigten, die Macht, die man weder begründen noch erklären
kann, die Macht jedoch, die berührt und erfasst, sobald sie uns in der Würde und
Souveränität des Gekreuzigten erreicht. Gekreuzigt aus Schwachheit, leben aus der
Macht Gottes ist für Paulus kein Dogma, dem man sich gehorsam unterwerfen muss,
sondern eine Erfahrung, die entsteht, wenn man sich dem Gekreuzigten aussetzt.
Gekreuzigt aus Schwachheit, leben aus der Macht Gottes. Eine Erfahrung, die nicht
auf Christus begrenzt ist, sondern auch Paulus, auch wir, machen können: denn
auch wir sind schwach in ihm, aber wir werden mit ihm leben vermöge der Macht
Gottes gegen euch. Weder Paulus noch wir können uns auf Christus beziehen, ohne
dass wir durch dessen Schwachheit auch mit unserer eigenen Schwachheit
konfrontiert würden. Seine Schwachheit weckt in uns unweigerlich das Bewusstsein,
dass auch wir vergängliche Wesen ohne absoluten Boden, ohne letzten Grund, ohne
substantielle Tiefe sind; dass auch wir einen fundamentalen Mangel an Ganzheit und
Vollkommenheit haben; dass auch wir in unserem Leben immer wieder mit
Schwierigem zu tun haben, das schmerzhaft ist und uns zu mancherlei
Kompensationen verleiten kann.
Es ist nicht einfach, sich mit Christus der eigenen Schwachheit auszusetzen. Die
Versuchung kann immer wieder auflodern, den eigenen Mangel mit Was-auch-immer
zu füllen, nur um ihn weniger zu spüren. Sei es nun der Wunsch nach einem andere
Menschen, mit dem zusammen man die verlorene Ganzheit wieder erlangen möchte,
sei es der Wille zur Macht oder der Wille zum Wissen, um sich im Gefühl eigener
Mächtigkeit und grossen Wissens die ängstigende Erfahrung von Ohnmacht und
Unwissenheit vom Leib zu halten, oder sei es die Abhängigkeit von einer Autorität,
einem fundamentalisierenden System oder einer Sucht, um seine existentielle
„Haltlosigkeit“ zu dekompensieren und den inneren Mangel auf Kosten eigener
Aufrichtigkeit mit destruktiven Beziehungen zu überdecken.
Das Besondere daran, durch Christus mit der eigenen Schwachheit konfrontiert zu
werden, ist, dass auch wir am Wunder seiner Auferstehung teilnehmen. Oder anders
gesagt: dass auch wir in der Schwachheit nicht verzweifeln; in der Grundlosigkeit den
Glauben nicht verlieren; in der Angst die Liebe nicht vergessen; im Zerbrechen der
Hoffnung nicht entbehren. In der Bezogenheit auf Christus werden auch wir in
unserer Schwachheit mit der göttlichen Auferstehungsmacht gestärkt und können die
Gradheit entdecken, die im Anerkennen unserer Schrägheit steckt; die Würde, die im
Akzeptieren unserer Gebrochenheit und Unzulänglichkeit geborgen ist; die
Souveränität, die im demütigen und bescheidenen Stehen zu unserer Schwachheit
gründet.
Gekreuzigt aus Schwachheit, leben aus der Macht Gottes. Die Macht, die in der
Bejahung unserer Schwachheit, unseres mangelhaften Lebens, steckt, ist eine
Stärke, die keiner weiteren Legitimation bedarf. Weder nach innen noch nach
aussen. Sie ist die Stärke bedingungsloser Akzeptanz der Realität wie sie ist, mit
allem Guten und Bösen, mit allem Freud- und Leidvollen, mit allem Wahren und
Verlogenen, das zu ihr gehört; der Bereitschaft, anzuerkennen, was werden will; sie
ist die Fähigkeit, die Schwerkraft zu akzeptieren, die alle Phänomene an ihren Ort
zieht; die selbstlose Unterordnung unter den Willen Gottes, weil man weiss, dass
man nichts nehmen kann, was nicht gegeben ist… Gegenbegriff dieser Stärke ist die
Gewalt; denn Gewalt ist es, wenn man seinen kleinen Willen gegen den Willen
Gottes durchzusetzen versucht; wenn man Dinge zu erzwingen versucht, die nicht
sein wollen; wenn man die Realität nach seinen eigenen Vorstellungen zu
konzipieren versucht. Die Stärke in der Schwachheit ist deshalb immer die
Widerstandstandskraft und Standhaftigkeit gegen die Gewalt; der Kampf der Demut
gegen die Gewalt; die Tapferkeit, die Gewalt ohne Gewalt zu überwinden; der Mut,
sein Leben ohne Künstlichkeiten und unter Verzicht ideologischer Krücken und
religiösen Insiderwelten, dafür aber in Einfachheit und Aufrichtigkeit zu leben.
Stärke dieser Art wirkt – wenn sie echt ist – ohne viele Worte und Erklärungen. Auf
sie hat sich Paulus den Korinthern gegenüber verlassen; an sie hat er geglaubt, ohne
sich dazu provozieren zu lassen, seinen Apostolat mit besonderen Machterweisen
und Wundertaten zu beweisen. Dies wäre immer nur Ausdruck seiner Macht, seines
Willens, seiner Ängstlichkeit, seines Ehrgeizes gewesen. Auf dies hat er deshalb
verzichtet, nicht um freilich der Schwäche das letzte Wort zu lassen, sondern um in
ihr der Macht Gottes Raum und Zeit (also Vergänglichkeit !) zu geben.
Gekreuzigt aus Schwachheit, leben aus der Macht Gottes. Die Stärke, die wir in der
Schwachheit erfahren, in eine Stärke der Demut. Eine Stärke, die dadurch entsteht,
dass wir uns nicht provozieren und kränken lassen, sondern gelernt haben, die
eigenen Frustrationen unbefriedigter Bedürfnisse im Gehorsam gegen den Willen
Gottes in guter Weise, also ohne Ressentiments und sublimen Ärger, zu
überschreiten, dabei freilich die Stärke und Souveränität Gottes zu spüren, die uns
zu Menschen macht, die – um das Wort von Ps 131 aufzunehmen, das wir in der
Lesung gehört haben – der Mutterbrust entwöhnt und im Glauben an Gott gestärkt
sind. Beten wir deshalb zu Gott, dass er immer mehr zu unserem Felsen wird, der
uns in unserer Schwachheit trägt und im Angesicht von Gewalt standhaft macht.
Amen.
Predigt vom 09. Oktober 2005 in Wabern
Bernhard Neuenschwander