Die Philosophie von Jesus Christus als Gekreuzigtem

Die Philosophie von Jesus Christus als Gekreuzigtem

Denn ich beschloss, nichts unter euch zu wissen als Jesus Christus, und zwar als
gekreuzigten.
1Kor 2,2

Liebe Gemeinde
Das Wort von Paulus, nichts anderes wissen zu wollen, keine andere Philosophie
haben zu wollen als Jesus Christus als Gekreuzigten, ist ein Wort, das man in seiner
Radikalität kaum überschätzen kann. Es braucht einiges an Wille, diesem Wort nicht
auszuweichen; es braucht einiges an Mut, sich dem Schrecken vor diesem Wort
auszusetzen; es braucht einiges an Kraft, der Angst vor diesem Wort standzuhalten.
Das Ausweichen ist so einfach, das Verdrängen so praktisch, das Ignorieren so
verführerisch.
Nichts anderes wissen wollen als Jesus Christus als Gekreuzigten. Nur Jesus
Christus als Gekreuzigten wissen wollen. Das Wissen, um das es hier geht, ist kein
alltagspraktisches Wissen. Es ist nicht das technische Wissen, wie man geht, wie
man spricht, wie man isst oder in kultivierteren Varianten, wie man ein Auto steuert,
mit Hilfe von Computern mit andern Menschen kommuniziert, oder wie man sich die
Nahrung, die man zum Leben braucht, zubereitet. Das Wissen um das es hier geht,
hat mehr den Stellenwert einer – wie die Amerikaner sagen würden – philosophy.
Philosophy bezeichnet weniger als das deutsche Wort „Philosophie“ ein
wissenschaftliches Denksystem als vielmehr eine Lebensanschauung; ein inneres
Koordinatennetz; ein inneres Wissen, wie man seine Welt deutet; wie man
herausfindet, was wahr ist, um Sinn zu erfahren; was gut ist, um danach zu leben;
was schön ist, um sich daran zu freuen. Um diese Art von Wissen geht es hier. Um
die Philosophie, die unser Leben organisiert, interpretiert und steuert.
Normalerweise ist uns unsere eigene Philosophie nur bruchstückhaft bekannt. Sicher
könnten die Meisten von Ihnen hier, wenn ich Sie fragen würde, was für Sie wichtig
ist, dieses und jenes aufzählen. Fragmente unserer Philosophie kennen wir
normalerweise durchaus. Aber meistens braucht es nur ein kleines Nachfragen, um
zu merken, dass vieles, was uns für die Alltagsbewältigung klar genug ist, bei
genauerem Hinschauen gar nicht mehr so klar ist. Oft wird schon ganz schnell
deutlich, dass unsere Philosophie ein Mix unterschiedlichster Gedankenfragmente
ist, Gedankenfragmente, die sich möglicherweise sogar widersprechen oder
jedenfalls nicht selbstverständlich miteinander aufgehen. Doch der grösste Teil
unserer Philosophie ist uns wahrscheinlich gar nicht richtig bewusst.
Zusammengestückelt aus unserem Leben verbinden sich höchst persönliche
Erfahrungen, die wir im Laufe des Lebens gesammelt haben, mit gesellschaftlichen
und kulturellen Elementen und schaffen diesen bewusst-halbbewusst-unbewussten
Mix, der unsere Philosophie ausmacht.
Nichts anderes wissen wollen als Jesus Christus als Gekreuzigten. Dies ist die
Philosophie, die Paulus wissen will. Nicht dieser psychologisch, gesellschaftlich,
kulturelle Mix, welcher ihn geprägt hat und welcher seine Philosophie
natürlicherweise ist, interessiert ihn, sondern Jesus Christus als Gekreuzigten. Jesus
Christus als Gekreuzigter soll den Stellenwert seiner Philosophie haben.
Dies ist schockierend und verwirrend. Sofort fragt man, wieso Jesus Christus als
Gekreuzigter die Position einer Philosophie einnehmen können sollte und weshalb er
sie überhaupt einnehmen sollte. Weshalb sollte man nichts anders wissen wollen als
Jesus Christus als Gekreuzigten, wenn man doch natürlicherweise von ganz andern
Faktoren geprägt und bestimmt ist ?
Offensichtlich weil man muss. Es gibt gar keine wirkliche Wahl. Paulus hat dies am
eigenen Leib erfahren. Ihm, Paulus, welcher als Saulus die Christen verfolgte, war
Christus mit Wucht und Gewalt widerfahren und hatte ihm keine andere Wahl
gelassen, als sich in seine Dienste zu stellen. Es war nicht Paulus, der den
gekreuzigten Jesus Christus als Philosophie gewählt hatte, sondern umgekehrt
wählte sich dieser Paulus und pflanzte sich ihm als Philosophie ein. Paulus hatte
dies nur akzeptieren können; er hatte ihn nur kennen lernen können und versuchen
können, mit ihm als Gekreuzigten zu leben. Und genau dies hat Paulus offensichtlich
getan: er hat sich entschieden, nichts anderes wissen zu wollen als Jesus Christus
und zwar als Gekreuzigten.
Jesus Christus als Gekreuzigter hat sich nicht nur Paulus gewählt, sondern ebenso
unzählige Menschen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen. Vielleicht braucht man
lange bis man dieses Gewähltsein merkt und akzeptiert. Vielleicht sträubt man sich
jahrelang und gibt sich die grösste Mühe, alles andere zu erleben, zu erfahren und
wissen zu wollen, um dieses Faktum nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen. Aber
möglicherweise spürt man eben doch, dass man von dieser Philosophie nicht in
Ruhe gelassen wird, dass sie immer wieder anklopft und dazu auffordert, sich von ihr
berühren zu lassen. Vielleicht zu Beginn nur wie von einem fremden Gast. Vielleicht
mit der Zeit wie von einem fremd-bekannten Gast. Vielleicht später sogar wie von
einem geliebten Gast. Unter Umständen kann man auf einmal realisieren, dass man
sich ihm längstens nicht mehr entziehen kann.
Nichts anderes wissen wollen als Jesus Christus als Gekreuzigten. Sie merken es:
dieses Wissen-wollen ist nicht das Analysieren eines unbekannten Objekts, ist nicht
das Interpretieren vergangener Ereignisse, ist nicht das Erklären eines
geheimnisvollen Phänomens. Dieses Wissen-wollen ist vielmehr ein Sich-Vertrautmachen
mit der Gegenwart von Jesus Christus als Gekreuzigtem in sich. Es geht
nicht um einen Jesus Christus, der vor 2000 Jahren gelebt hat. Es geht um einen
Jesus Christus, der in uns gegenwärtig ist. Und zwar als Gekreuzigter. Wir selber
tragen in uns den Gekreuzigten; wir selber tragen den Gekreuzigten in unserem
Körper, in unserem Gefühl, in unserem Denken; wir selber werden von dieser
Philosophie organisiert, interpretiert und gesteuert. Nichts anderes wissen wollen als
Jesus Christus als Gekreuzigten kann man deshalb nur, wenn man genau dies lebt.
Nur durch das Leben kann man dasjenige zu verstehen beginnen, aus dem man lebt.
Mit theoretischer Distanz ist dies nicht möglich. Man muss sich auf den Fluss wagen,
um zu merken, was es heisst, von ihm getragen zu werden. Man kann die
Philosophie von Jesus Christus als Gekreuzigtem nur im Prozess kennen lernen.
Tut man dies, entsteht eine grosse Entlastung. Es ist zunächst die Entlastung, die
entsteht, weil man die Angst vor dem verliert, das man versucht hat zu vermeiden.
Das Vermeiden und Verdrängen schwieriger Erlebnisse ist zwar manchmal durchaus
eine Gnade. Jedenfalls wenn man auf diese Weise für sich und andere besser lebt,
als wenn man von den schwierigen Erinnerungen ständig heimgesucht wird. Es
braucht auch viel Kraft, Erfahrungen zu verdrängen und die Konfrontation mit
aufdringlichen Gefühlen zu vermeiden. Weil man immer ein wenig einen Seiltanz
machen muss. Wenn dieser wegfällt, wenn man sich auf das einlassen kann, das
anklopft, wenn man das zulassen kann, das hereinkommen will, dann gibt dies
Entlastung. Dies ist auch wahr, wenn man den gekreuzigten Jesus Christus nicht
mehr vor der Tür warten lässt und man ihm statt dessen auftut und ihn
hereinkommen lässt.
Entlastung entsteht jedoch noch auf eine ganz andere Art. Nämlich weil es Jesus
Christus ist und zudem, weil es Jesus Christus als Gekreuzigter ist, welcher Zutritt
will.
Nicht jeder Gast, den man bei sich aufnimmt, macht uns gleichermassen Freude.
Nimmt man Jesus Christus bei sich auf, nimmt man das Wort Gottes bei sich auf.
Man nimmt in sich auf, wie sich uns Gott zeigt; man nimmt in sich auf, wie Gott uns
anspricht, berührt, bewegt; man nimmt in sich auf, wie Gott durch unsern Körper und
unsern Geist zum Ausdruck kommen will. Genau dies ist der Wille dessen, der nicht
von dieser Welt ist; es ist der Wille dessen, der nicht psychologisch, gesellschaftlich,
kulturell geprägt ist; es ist der Wille, der nicht irgendeine Philosophie ist, sondern die
Souveränität des Unbedingten. Spürt man diese Qualität von Kraft, beginnt diese
Qualität von Kraft in uns zu leben. Nichts anderes wissen wollen als Jesus Christus
als Gekreuzigten ist der Wille, nichts anderes wissen und erleben zu wollen, als die
souveräne Kraft Gottes, welche frei und gelassen-engagiert macht im Umgang mit
weltlichen Bindungen.
Entlastung gibt diese Philosophie jedoch nicht nur weil sie die Philosophie von Jesus
Christus ist, sondern die Philosophie von Jesus Christus als Gekreuzigtem. Der
Gekreuzigte ist der Ort, an welchem die Macht des Bösen durchbrochen ist; er ist der
Ort, an welchem sich die Liebe so radikal hingibt, dass sie keine Angst vor dem
Bösen mehr hat; er ist der Ort, an welchem die Liebe mit ausgestreckten Armen
senkrecht bleibt (mit Händen und Armen Kreuzzeichen andeuten!). Dies kann man
auch ganz körperlich erleben. Er ist deshalb der Ort, von dem her die Welt
revolutioniert und ein freies und gerechtes Leben geboren wird; es ist der Ort, an
welchem Menschen durch die Schwachheit ihres Kreuzes hindurch zu einem neuen
Bewusstsein erwachen.
Nichts anderes wissen wollen als Jesus Christus als Gekreuzigten, das ist die
Philosophie. Es braucht Zeit, mit dieser Philosophie vertraut zu werden. Es braucht
ein Leben lang Zeit. Aber es ist eine Philosophie, die nicht nur unser Denken,
sondern ebenso unser Gefühl, unsern Körper, unser ganzes Handeln und Tun
erfasst, verändert, deutet und bewegt. Bitten wir Gott deshalb, dass er uns mit dieser
seiner Philosophie vertraut macht, damit wir lernen, sie mit unserem Leben zu leben.
Amen.

Predigt vom 31. Juli 2005 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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