Sorge um sich

Sorge um sich

Oder welche Frau, die zehn Drachmen hat, zündet nicht, wenn sie eine Drachme verliert, ein Licht an und kehrt das Haus und sucht mit Fleiss, bis sie sie findet ? Und wenn sie sie gefunden hat, ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammen und sagt: Freuet euch mit mir ! denn ich habe die Drachme gefunden, die ich verloren hatte. So, sage ich euch, ist bei den Engeln Gottes Freude über einen Sünder, der Busse tut. Luk 15,8-10

Liebe Gemeinde Sorge tragen um sich ist ein grosses Thema mit unterschiedlichsten Facetten. Es ist ein Thema, von dem man einerseits den Eindruck haben kann, es sei heute ausserordentlich modern und „in“, das man andererseits aber auch als sehr vernachlässigt empfinden kann. Es hängt offensichtlich viel davon ab, was man unter Sorge um sich versteht. Auf der einen Seite sieht es so aus, als ob viele Menschen heute gar nichts anderes tun, als sich um sich selbst zu sorgen. Viele Menschen haben nichts anderes im Sinn, als die eigene Karriere, die eigene Selbstverwirklichung, das eigene Glück. Wie in historisch kaum vergleichbarem Mass streben heute eine grosse Anzahl von Menschen ein Höchstmass an Geniessen und Fun und Konsumieren an und wollen nichts weniger als Verzichten oder sich zugunsten von Anderen Zurücknehmen. Es ist ganz im Trend, sich selbst so zu modellieren, wie man sich gerne hätte. Man kann hier an die Schönheitschirurgie denken, die immer billiger und populärer wird; an die Kosmetik, die sich auch die Männerwelt immer nachhaltiger erobert und den Mann neu als „metrosexuell“ zu designen versucht (also als Mann, in welchem das Männliche und Weibliche gleichermassen vorhanden sein soll); an Fitnessstudios, die ein individuelles Modellieren des eigenen Körpers ermöglichen; aber auch an die Gentechnologie, die dazu beitragen soll, den Menschen optimaler zu konzipieren. Man könnte diese kurze Liste beliebig erweitern. Es gibt heute verschiedenste Formen, wie man sich intensiv um sich selbst kümmert. Ist dies also der Weg, den man gehen soll, wenn man heute Sorge um sich trägt oder tragen will ? Auf der andern Seite kann man freilich auch das Gefühl haben, dass sie zu viele Menschen zu wenig um sich selbst kümmern: Wenn man nur die andern Menschen sieht; wenn man sich nur davon bestimmen lässt, wie man die Bedürfnisse anderer befriedigen kann; wenn man sein Leben nur von Ziel zu Ziel lebt; wenn man sich, sobald man ein Ziel erreicht hat, gleich wieder ein neues Ziel setzt, um nicht in ein Loch zu fallen; wenn man nichts mehr will, als Geld zu verdienen, auf der Karrierenleiter eine höhere Position zu erklimmen; wenn man immer noch etwas schöner wohnen, ein noch grösseres Auto fahren will; wenn man sich von anonymen Modeströmungen, Mustern und Machtfeldern dominieren lässt, dabei jedoch immer mehr in Stress kommt, immer schlechter schläft, immer kranker wird… wenn man sein Leben so lebt, dann ist es mit der Sorge um sich nicht mehr weit her. Denn man kann sich ernsthaft fragen, ob jemand, der sich zwar seine Ziele setzt, sich diesen Zielen dann aber so vollständig unterwirft, dass er weder links noch rechts schaut, weder Kosten noch Schmerzen scheut und sein Selbstwertgefühl davon abhängig © ritualart.ch 2 macht, ob er seine Ziele erreicht…, ob jemand, der sich so von der Bestätigung von aussen abhängig macht, Sorge zu sich trägt. Was also heisst eigentlich Sorge um sich ? Wir haben es hier mit einer alten philosophischen Frage der Menschen zu tun. Von Sokrates bis zu den Stoikern wurde sie in der Antike oft gestellt, aber keineswegs immer gleich beantwortet. Auch das Mittelalter hat sich mit ihr beschäftigt. Und heute ist sie nicht zuletzt durch die Arbeiten des französischen Philosophen Michel Foucault wieder ins Gespräch gekommen, und zwar als Frage, wie wir Menschen im Kontext anonymer Machtdiskurse mit weniger Entfremdung dazu gelangen, uns selbst werden zu können. Von diesem Ansatz her ist sie heute zur Schlüsselfrage der „Lebenskunst“, der Kunst sein Leben zu leben, geworden. Zur Beantwortung ebendieser Frage möchte ich hier nun von einem biblischen Gleichnis, vom Gleichnis „von der verlorenen Drachme“, ausgehen. Es ist dies das Gleichnis, das bereits der grosse griechische Kirchenvater, Gregor von Nyssa, auf die Sorge um sich gedeutet hat. Eine Frau hat 10 Drachmen. 1 Drachme hat zur Zeit des Neuen Testaments etwa den Wert eines Tagelohns von einem ungelernten Arbeiter. Die Frau, die diese 10 Drachmen besitzt, verliert einen. Als dies geschehen ist, zündet sie ein Licht an. Die Häuser Palästinas haben zu jener Zeit keine Fenster. Sie ist deshalb darauf angewiesen, Licht zu machen, um das verlorene Geldstück suchen und finden zu können. Mit diesem Licht in der Hand oder mit einem Licht auf einem Ständer durchsucht sie engagiert das ganze, normalerweise dunkle Haus bis sie das verlorene Geldstück gefunden hat. Im Gleichnis wird sodann herausgestrichen, dass sie nach dem Finden des Geldstücks vor lauter Freude ihre Freundinnen und Nachbarinnen zusammenruft und sich mit ihnen zusammen freuen will. Ganz wichtig ist also nicht nur das Suchen, sondern auch die Freude über das Finden. Im Schlusssatz wird schliesslich festgestellt, dass sich gleich wie die Freundinnen und Nachbarinnen auch die Engel über einen Sünder freuen, der Busse tut. Steigen wir beim Schlusssatz ein ! Ein Sünder, der Busse tut, ist ein Mensch, der aufhört, nur um sich zu kreisen und sich statt dessen für Gott öffnet. Sündersein ist im Neuen Testament nicht in erster Linie eine moralische Angelegenheit, sondern eine Glaubenssache. Ein Sünder ist jemand, der nur auf sich selbst hört und Gott keinen Platz gibt. Busse tun meint entsprechend: nicht nur um sich selbst kreisen, sondern sehen, dass das Drehen ein Rad mit einer Achse ist, einer Achse, die in der Mitte ruhig ist. Der Ort dieser Ruhe, die Mitte im Drehen, das Auge im Taifun, ist der Ort, an welchem sich uns der Himmel öffnet und im Wirbel ein Frieden aufscheint: der Friede Gottes, der nicht von dieser Welt ist, aber in dieser Welt spürbar ist. Busse tun ist deshalb der Vorgang, in welchem man von seinem Drehen ablässt und sich statt dessen auf die Ruhe im Drehen, auf den Frieden Gottes in der Welt, einlässt. Darauf also bezieht sich das Gleichnis der Frau mit den 10 Drachmen: Die Suche nach dem verlorenen Geldstück meint die Suche nach dem verlorenen Gott, und die Freude über das Finden des Geldes meint entsprechend das Finden Gottes. Von der Metaphorik ist dies soweit relativ klar. Was heisst dies nun, wenn wir das Gleichnis als Ausdruck der Sorge um sich deuten ? Interpretieren wir das Gleichnis in diesem allegorischen Rahmen, dann ist das Haus offensichtlich unser Leib, unser Körper, in welchem wir wohnen. Das Haus ist © ritualart.ch 3 normalerweise dunkel, weil wir ein nur sehr beschränktes Bewusstsein unseres Körpers, unseres Innenlebens, haben. Aber genau hier, in diesem relativ dunklen Haus, ist etwas Wertvolles verloren gegangen. Was wir deshalb als 1. brauchen, um mit der Suche beginnen zu können, ist Licht. Wir müssen unser Bewusstsein trainieren, unsere Spürsamkeit, unsere Wahrnehmungsfähigkeit, damit wir mehr Körperbewusstsein und Sensitivität für uns selbst erlangen. Ohne das Licht dieses Bewusstseins nützt uns alles Suchen nichts. Sorge um sich heisst deshalb als 1.: unser Bewusstsein von uns selbst vertiefen, erweitern, verfeinern. Als 2. brauchen wir einiges an Engagement zum Suchen: Ein kleines Geldstück finden wir in einem dunklen Haus mit relativ schlechter Beleuchtung kaum auf Anhieb. Wir müssen deshalb bereit sein, im ganzen Haus auf die Suche zu gehen und Mühe und Not auf uns nehmen, die damit verbunden ist. Voraussetzung ist dazu der Glaube, dass wir das verlorene Geldstück tatsächlich finden werden. Sorge um sich heisst deshalb: den Glauben zu haben, dass sich unser Engagement zum Suchen wirklich lohnt. 3. freilich brauchen wir auch eine Ahnung von dem, wonach wir suchen. Im Gleichnis ist dies klar: die Frau hat ihre 9 Drachmen, weiss, wie diese aussehen, und kann nach dem 10. suchen. Was wir also brauchen, ist eine Empfindung dafür, was uns ein Wert ist. Vielleicht gibt es in unserem Leben Verschiedenes, das uns wertvoll ist (Familie, Sicherheit, Beruf usw.). Sie können sich selber überlegen, was für sie die 9 übriggebliebenen Drachmen sind ! Es ist wichtig, dass wir wissen, was uns etwas bedeutet, und dass wir wertschätzen, was wir haben. Eines dieser Wertstücke ist freilich verloren gegangen. Was ist das für eine Drachme ? Deuten wir dieses Gleichnis im Zusammenhang der Sorge um sich, dann ist die verlorene Drachme unsere verlorene Berufung. Jeder Mensch hat seinen Ruf. Jeder Mensch ist von Gott angesprochen, hat etwas in sich, das ihn oder sie zu seinem oder ihrem echten Leben bringt. Es ist dies der Ruf, den man tief in seinem Innern spürt, der einen gerade und aufrecht werden lässt und einen mit sich und seinem Leben – was auch immer die Schwierigkeiten und Problemen sind, mit denen man konfrontiert ist – in Frieden bringt und die Gewissheit vermittelt: Ja, so bin ich ! So bin ich nicht künstlich und unnatürlich; so ist keine Gewalt im Spiel, die etwas erzwingen will, was nicht ist; so lebe ich das Leben, das mir gegeben ist. Lebt man aus seinem „Saft“ heraus, hat man nicht keine schwierigen Situation zu meistern und wird einem auch nicht immer alles leicht fallen. Aber man hat die innere Stärke, Sicherheit und Freude, mit dem zu leben, in dem man lebt. Sorge um sich heisst deshalb also: Sorge um das Wort von Gott, das uns ruft, uns unsere Berufung ist und will, dass wir diese Berufung leben. Das Hören auf das Wort Gottes, auf unsere Berufung, kann man verloren haben. Und dann fehlt einem neben all den Wertstücken, die man hat, ein wichtiger Teil. Dann fehlt einem der Sinn, die tiefe Selbstachtung, die grosse Kraft, standhaft zu sich selber zu stehen. Es braucht deshalb wirklich das Licht bzw. das Bewusstsein zum Hören auf das Innere seines Körpers; es braucht den Glauben, dass sich dieses Engagement zum Hören lohnt; und es braucht dann auch die Bereitschaft, seine Berufung zu vernehmen, zu akzeptieren und zu leben. Nur wenn alle 3 Aspekte zusammenkommen, finden wir das verlorene Geldstück; nur wenn alle 3 Aspekte zusammenkommen, tragen wir Sorge zu uns. © ritualart.ch 4 Dass wir uns freuen, wenn dies gelingt, ist dann durchaus naheliegend. Wer das verlorene Geldstück findet, wer seine verlorene Berufung findet, der hat Freude und der will die Freude über seinen Fund mit Andern teilen. Es ist dies die Freude, die natürlicherweise entsteht, wenn man aus seiner Kraft, aus seinem „Saft“ herauslebt; wenn man seine Geradheit, Freiheit und Integrität spürt; wenn man merkt und akzeptiert, was das Leben ist, das einem von Gott geschenkt ist. Es ist mir klar, dass in der Fülle von Angeboten, die wir heute haben, um Sorge zu sich zu tragen, die Aufforderung zum Hören auf das Wort Gottes bzw. auf die eigene Berufung, nicht unbedingt populär ist. Denn wenn man die Sorge um sich auf diese Art und Weise versteht, dann muss man immer wieder ehrlich mit sich ins Gericht gehen, muss an sich arbeiten und sich immer wieder dem Ruf Gottes aussetzen, um ihn zu vernehmen und um ihn zu leben. Aber umgekehrt ist ebenfalls wahr, dass man dann, wenn man dies tut, auch etwas erhält: Trägt man in dieser Weise Sorge zu sich, entsteht in sich eine persönliche Souveränität, ein Mitgefühl für andere Menschen und eine Lebenszufriedenheit, die in allem Schwierigen, in allen Wirbeln des Lebens, die Mitte sieht, aus welchem die Schönheit der Ruhe Gottes erstrahlt. Beten wir deshalb zu Gott, dass wir aus unserer Selbstbezogenheit herauskommen und so Sorge um uns haben, dass wir seinen Ruf und unsere Berufung hören und leben. Amen.

Predigt vom 26. Juni 2005 in Wabern
Bernhard Neuenschwander
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