Da traten die Apostel und die Ältesten zusammen, um über diese Sache zu befinden. Als es dabei zu einem heftigen Streit kam, stand Petrus auf und sagte zu ihnen: Brüder, ihr wisst, dass Gott von langer Hand die Entscheidung getroffen hat, durch meinen Mund alle Völker das Wort des Evangeliums hören und sie zum Glauben kommen zu lassen. Und Gott, der die Herzen kennt, hat das beglaubigt, indem er ihnen den heiligen Geist gab, so wie er ihn uns gegeben hat. Er hat zwischen uns und ihnen keinen Unterschied gemacht, denn er hat ihre Herzen durch den Glauben gereinigt. Was also wollt ihr jetzt Gott noch auf die Probe stellen, indem ihr den Jüngern ein Joch auf den Nacken legt, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten? Wir glauben doch, dass wir durch die Gnade des Herrn Jesus gerettet werden, auf die gleiche Weise wie sie. Da schwieg die ganze Versammlung und hörte Barnabas und Paulus zu, wie sie erzählten, welch grosse Zeichen und Wunder Gott durch sie unter den Völkern gewirkt hatte. Apg 15,6-12
Gottes Gegenwart ist eine Oase mitten in den Wirbeln dieser Zeit. Gebet, Meditation, heilige Momente machen sie spürbar. Ist Gott gegenwärtig, legen sich Aufregung und starke Emotionen. Bilder verblassen und Gedanken verstummen. Der Körper wird entspannt und durchlässig. In der Materie breitet sich grosse Weite aus. In dieser Weite kehrt Friedlichkeit ein, und der Moment ist erfüllt von liebender Wärme und weiser Fürsorge. Fassen lässt sich Gottes Gegenwart nicht. Worte mögen sie beschreiben, und Bilder können sie andeuten. Doch nichts ersetzt ihre unmittelbare Erfahrung. Sie geschieht aus sich selbst, aus purer Gnade – als Geschenk des Augenblicks in der Materie, seit und solange es Materie in diesem Universum gibt.
Dieses Geschenk ist kein Privileg des Menschen, wohl aber seine Herausforderung. Er teilt Gottes Gegenwart mit der Materie. Erde ist er, Erde wird er. Entstanden aus Sternenstaub löst er sich wieder auf in Sternenstaub. Ist er mehr als das? Gewiss, denn er teilt Gottes Gegenwart mit aller Materie. Jedes Staubkorn, jedes Atom eine Spur der Gegenwart Gottes. Was Seele genannt wird, reflektiert diese Spur und verbindet mit der Ewigkeit von Gottes Gegenwart. Insofern ist der Mensch wie alle Materie mehr als Materie und in diesem Mehr in grosser Gemeinschaft mit dem Universum. Besonders ist am Menschen ist nicht seine Seele, sondern die Freiheit, diese nicht nur mit Gott, sondern auch mit sich selbst reflektieren zu können. Allerdings ist genau diese Freiheit eben auch seine Herausforderung.
Bin ich mit mir und Gott im Einklang, erkenne ich im Hier und Jetzt die Gnade des Moments. Ich finde darin das wahre Selbst meines materiellen Daseins, und ich erfahre mit aller Materie jene Gemeinschaft, die die Freiheit von Gottes Gegenwart miteinander teilt. Bin ich jedoch dazu nicht in der Lage, spalte ich meine Seele von Gott ab und reflektiert mich nur mit mir selbst. So aber werde ich zu einem isolierten Subjekt, das in sich selbst gefangen ist und die Verbundenheit mit diesem Universum verloren hat. Die philosophische Tradition nennt dies Solipsismus – ein Menschsein, das auf die eigene Subjektivität zurückgeworfen ist und das in seiner Einsamkeit vor der Aufgabe steht, sich Gemeinschaft und Verbundenheit zu erarbeiten. Gottes Gegenwart ist deshalb die Oase, für die einzustehen und ihrer Infragestellung entgegenzutreten für meine menschliche Freiheit eine ständige Herausforderung bleibt. Unser Predigttext führt genau dies vor.
Er steht in einem Kontext, in welchem die Oase der Gegenwart Gottes zur Streitsache geworden ist. Auslöser ist die Frage, ob die Beschneidung und mit ihr das jüdische Gesetz eine Bedingung ist, damit auch Menschen nichtjüdischer Herkunft zur christlichen Gemeinde gehören können. Die grosse Metropole Antiochia und mit ihr Paulus und Barnabas sind der Auffassung, dass keine solche Bedingung besteht. Die kleine traditionelle Gemeinde in Jerusalem ist stärker der jüdischen Tradition verpflichtet. Um die Streitfrage zu klären, reisen Paulus und Barnabas mit einer antiochenischen Delegation nach Jerusalem. Sie werden freundlich empfangen, doch schon bald kommt der Konflikt zur Sprache. Eine Gruppe von Pharisäern, die zum Glauben gekommen ist, fordert, dass die zur christlichen Gemeinde gehörenden Heiden beschnitten und dem jüdischen Gesetz unterstellt werden (Apg 15,15). Erzählt wird nun, wie im sogenannten Apostelkonzil gegen Ende der 40er Jahre der Konflikt in Jerusalem ausgetragen wird.
Unser Predigttext hält fest, dass nicht in der ganzen Gemeinde, sondern im kleineren Rahmen, bestehend aus den anwesenden Aposteln und Ältesten, über die Sache diskutiert wird (V6). Als es zu einem heftigen Streit kommt, ergreifen nicht Paulus und Barnabas als Anführer der antiochenischen Delegation das Wort. Vielmehr steht Petrus auf und spricht (V7-11). Sein Auftritt kommt überraschend. Nachdem er unter Herodes Agrippa ins Gefängnis geworfen, aber auf wunderbare Weise befreit worden war, verliess er Jerusalem und überliess die Gemeindeleitung Jakobus (vgl. Apg 12,17). Dennoch ist gut denkbar, dass er, sobald sich die Situation in Jerusalem beruhigt hatte, in gutem Kontakt zur Jerusalemer Gemeinde blieb. In unserem Predigttext tritt er als nach wie vor respektierte Autorität auf, die der Position von Paulus und Barnabas nahesteht.
Er spricht die Anwesenden als Brüder an und erinnert sie an seine bisherige Tätigkeit (V7). Zunächst hält er fest, dass sie längstens wissen, dass Gott von langer Hand die Entscheidung getroffen hat, durch seinen Mund alle Völker das Wort des Evangeliums hören und sie zum Glauben kommen zu lassen. Er deutet damit an, dass er ja damals nach Jerusalem hinaufkam und berichtete, wie er gegen seinen eigenen Widerstand von der Stimme Gottes aufgefordert wurde, sich dem römischen Hauptmann Cornelius in Cäsarea zuzuwenden, und wie er ihn dann taufte und bei ihm wohnte (Apg 10,1-11,18). Die Verantwortlichen der Jerusalemer Gemeinde sind also hinlänglich über seine Offenheit für die Nichtjuden, ja für die kosmische Verbundenheit der Materie sowie seine Fokussierung auf den Glauben informiert.
Petrus unterstreicht seine Überzeugung, indem er auf die Gabe des heiligen Geistes verweist (V8f). Gott, der die Herzen kennt, hat die Aufnahme der Heiden in die christliche Gemeinde beglaubigt, indem er ihnen den heiligen Geist gab, wie er ihn – und hier schliesst er sich ausdrücklich mit ein – auch uns, die wir aus dem Judentum kommen, gab (vgl. Apg 2,1-13 und 10,44-48). Gott hat zwischen ihnen und uns keinen Unterschied gemacht, denn er hat ihre Herzen durch den Glauben gereinigt. Der heilige Geist ist also die Kraft der Gegenwart Gottes. Sein Wirken ist für die Reinigung der Herzen im Glauben entscheidend. Ist Gottes Geist gegenwärtig, läutert er das menschliche Herz und offenbart ihm die grosse Gemeinschaft, in welcher es bereits steht (vgl. Apg 10,9-16.44-48). Diese Gemeinschaft ist nicht durch dieses oder jenes definiert, sondern verbindet alle Menschen, die glauben, ja sie verbindet alle Materie, die Gottes Gegenwart teilt.
Dies festzustellen, hat für Petrus Konsequenzen (V10f). Hat sich Gott zu dieser grossen Gemeinschaft entschieden, ist es abwegig, Gott noch auf die Probe zu stellen und sich damit vom Eigenwillen leiten zu lassen. Weshalb denen, die doch Jünger sind, ein Joch auf den Nacken legen, das – wieder bezieht er sich mit ein – weder unsere Vorfahren noch wir zu tragen vermochten. Entscheidend ist doch, dass wir wie sie durch die Gnade des Herrn Jesus gerettet werden. Petrus argumentiert hier also wie Paulus, betont die Unerfüllbarkeit des Gesetzes und die Rechtfertigung bzw. Rettung aller allein durch Gnade (vgl. Gal 2,21). Mag er bei seinem früheren Zusammentreffen mit Paulus in Antiochia noch weniger eindeutig gewesen sein (vgl. Gal 2,11-14), so ist er jetzt – jedenfalls aus lukanischer Sicht – ganz auf die paulinische Linie eingeschwenkt. In der Apostelgeschichte verschwindet er nach diesem Plädoyer von der Bildfläche und überlässt die Bühne Paulus.
Die Wirkung seines Auftritts bestätigt dies (V12). Die Versammlung schweigt und hört Barnabas und Paulus zu, wie sie erzählen, welch grosse Zeichen und Wunder Gott durch sie unter den Völkern gewirkt hat. Offenbar haben die Worte von Petrus viel Zustimmung erzeugt. Barnabas, der in der Jerusalemer Gemeinde stärker verankert ist als Paulus (vgl. Apg 4,36), übernimmt in dieser Situation die Führung und untermauert zusammen mit Paulus, was Petrus soeben ausgeführt hat. Die Fortsetzung berichtet dann, wie der Gemeindeleiter Jakobus das Wort ergreift und den Konflikt mit einem Kompromissvorschlag entspannt.
Das heutige Nachdenken über diesen Predigttext konfrontiert uns damit, dass die Gemeinschaft der Gegenwart Gottes zwar alle Materie verbindet und auf diese Weise eine Oase bildet, dass aber genau diese Oase eine ständige Herausforderung bleibt und zum Streitfall werden kann. Was heisst das?
Dies heisst zunächst, dass es Menschen braucht, die diese Herausforderung annehmen und sich der Auseinandersetzung stellen. Petrus macht es vor. Er steht auf, stellt sich schützend vor Paulus und Barnabas und wirft seine ganze Autorität in den Streit gegen die Kritiker einer universalen Gemeinschaft einzig und allein aufgrund der Gegenwart Gottes. Für ihn ist klar, dass mitten in der bedingten menschlichen Freiheit die bedingungslose Freiheit Gottes gegenwärtig ist – jeden Moment, in allem, was ist. Für ihn ist aber ebenso klar, dass sich die menschliche Freiheit der bedingungslosen Freiheit auch verschliessen und mitten in sich selbst keine andere Freiheit als die eigene gelten lassen kann. Es ist und bleibt eine Herausforderung, mich meiner eigenen Begrenztheit und vor allem auch meiner eigenen Endlichkeit zu stellen und in jenem Abgrund zwischen meinem Sein und meinem Nichtsein die Gegenwart Gottes zu entdecken. Doch genau dies ist die Tür zur Oase der grossen Gemeinschaft: die Tür zu meinem Selbst, die Tür zur tröstenden Verbundenheit mit allem, was es gibt, die Tür, die immer wieder bedroht ist und für die einzustehen ich gerufen sind.
Allerdings muss dieses Einstehen überzeugend sein, erfüllt von der Gegenwart Gottes und frei von Eigenwillen. Petrus verweist in seinem Plädoyer auf die Entscheidung, die Gott von langer Hand getroffen hat und in deren Dienst er sich gestellt hat. Ihm ist zunächst schwergefallen, diese Entscheidung zu akzeptieren, aber er hat begriffen, dass Gott durch den heiligen Geist in einer Weise gegenwärtig ist, dass der menschliche Eigenwille von seiner isolierten Selbstbezogenheit geläutert wird und dass auf diese Weise mitten zwischen sich und sich Gottes bedingungslose Freiheit Einzug nimmt. Er verweist auf seine Erfahrung, die für ihn evident ist, und er setzt darauf, dass der Funke von deren Evidenz springt und bei seinen Zuhörern zu ebensolcher Evidenz führt. Das Dilemma seines Plädoyers bleibt allerdings augenfällig: Was er zu vermitteln versucht, muss unmittelbar einleuchten – oder es leuchtet nicht ein. Stehe ich für Gottes Gegenwart ein, kann ich nur darauf vertrauen, dass sie unmittelbar von Herz zu Herz wirkt. Vermitteln kann ich sie nicht. So überzeugend ich sein muss, so wenig liegt in meinen Händen, ob ich es bin.
Schliesslich erfordert das Einstehen für die Oase der Gegenwart Gottes den Mut, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen und ihr nicht mit Verbissenheit den Weg zu verbauen. Gefordert ist nur, das Nichttun in Liebe und Weisheit zu tun. Petrus zeigt auch hier, was dies heisst. Vorwürfe und Angriffe auf seine Gegner sind kein Thema für ihn. Er bleibt vielmehr auch im Streit in der Gegenwart Gottes verankert, nimmt zwar den Streitpunkt auf, aber fordert dazu auf, sich wie er nicht in den Streit zu verstricken. Im Zentrum steht Gottes bedingungslose Gegenwart, welche die Oase der Verbundenheit aller Menschen, ja aller Materie, vergegenwärtigt. Mehr oder anders zu wollen, stellt sie infrage und muss scheitern. Er kann deshalb die Bühne ruhig und frei verlassen, auch wenn der Ausgang des Konflikts noch offen ist. Was er damit deutlich macht, ist dies: Will ich die Gemeinschaft der geteilten Gegenwart Gottes erfahren, muss ich keine vordefinierten Werte und Normen erfüllen, keine Ideologie bedienen, keine Ziele erreichen. Es genügt, in meinem Tun die Liebe und Weisheit von Gottes bedingungsloser Gegenwart zur Geltung kommen zu lassen. Ich kann diese nicht machen. Aber ich kann glaubend ihre Gnade tun, ich kann mein Selbst sein, das in der Oase der Gnade mit allem, was es gibt, bereits eins ist, und ich kann darauf setzen, dass dies in meinem Tun gegenwärtig wird. Solches Tun des Nichttun gibt mir in Konflikten Gelassenheit und Freiheit, mich zu engagieren und gleichzeitig zu lassen.
Es ist in dieser postchristlichen Zeit mit all ihren Unsicherheiten und offenen Konflikten eine Wohltat, in jener Oase verankert zu sein, in der wir mit aller Materie eins sein. Wir müssen dafür nichts tun. Es genügt, in der bedingungslosen Gegenwart Gottes zu sein. Doch genau dies ist eine Herausforderung. Wir sollen für diese Oase einstehen und kämpfen, aber wir sollen dabei nicht vergessen, dass sie aus sich selbst geschieht und nicht an unser Tun gebunden ist. Beten wir also, dass wir dieses Nichttun in Liebe und Weisheit tun und darin in allen Konflikten und Auseinandersetzungen frei und stabil bleiben. Amen.
Predigt vom 16. Februar 2025 in Wabern
Bernhard Neuenschwander