Fülle ohne Worte

Fülle ohne Worte

So verkündigen wir euch die Verheissung, die an die Väter ergangen ist, als gute Botschaft: Gott hat sie erfüllt an uns, ihren Kindern, indem er Jesus auferstehen liess, wie schon im zweiten Psalm geschrieben steht: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt. Apg 13,32-33

Gottes Gegenwart ist überfliessende Fülle. Eine Quelle, die den Moment erfüllt. Ein Fluss, der den Augenblick zur Ewigkeit macht. Ein Meer, das alles durchdringt. Diese Fülle kennt kein Dies und Das, wird nicht durch Dinge voll und ist nicht die Summe von Objekten. Sie ist nichts von all dem. Die Fülle der Gegenwart Gottes ist Sein und Nichts. Bedingungslose Freiheit jenseits aller Dualität, unabhängig von Raum und Zeit, frei von Gut und Böse. Doch sie ist auch nicht abgekoppelt vom Dies und Das, nicht getrennt von diesem Universum und dieser Erde. Die Fülle der Gegenwart Gottes ist unmittelbare Präsenz mitten darin. Sie geschieht aus sich selbst, aus purer Gnade, ohne jedes Zutun der Dinge, und sie geschieht jeden Moment. Deshalb ist sie die Fülle des Augenblicks, das Geheimnis der Gegenwart.

Diese Fülle der Gegenwart Gottes ist der Segen von Liebe und Weisheit im Würfelspiel des Lebens, der in jedem Hier und Jetzt steckt. Sie ist die Freiheit, in der die Würfel fliegen, nachdem sie geworfen sind und bevor sie fallen, sie steckt in der Unschärfe, die jedem Hier und Jetzt eigen ist. Sind die Würfel mit festgelegtem Impuls frei am Fliegen, ist – darauf verweist die Heisenberg’sche Unschärferelation[1] – ihr Ort in der Zeit, also auch das, was sie anzeigen, nicht scharf bestimmbar. Der Erkennbarkeit sind prinzipielle Grenzen gesetzt. Wird umgekehrt der Moment in Raum und Zeit definiert, mag er als Messgrösse funktionieren; doch so fliegen die Würfel nicht mehr, die Freiheit in der Unschärfe ist zerstört, und der Moment ist verpasst, ohne dass er als Moment erkannt worden ist. Soll die Fülle der Gegenwart Gottes bleiben, gibt es im Hier und Jetzt weder Raum und Zeit noch Gut und Böse. Der Moment ist weit, ohne jedes Da und Dann, ohne jede Wertung. Sobald die Würfel fallen, ist alles anders. Ein neuer Moment beginnt. Was Wirklichkeit ist, wird offenbar, und Glück und Pech werden augenfällig. Doch bis dies so weit ist, wird im Rahmen des Spiels alles möglich bleiben. Die Gegenwart Gottes ist die Fülle zwischen Ereignissen in Raum und Zeit, die jedes für sich wahrgenommen, gemessen und bewertet werden können, sie selbst ist indes nichts als pure Präsenz, ohne Raum und Zeit, ohne Gut und Böse. Es ist deshalb sinnlos zu sagen, die Gegenwart Gottes ist hier oder dort, dauert kurz oder lange, repräsentiert Gutes und entlarvt Böses (vgl. Lk 17,20f). Sinnerfüllt ist einzig und allein der Moment, in welchem nichts als sie selbst geschieht. Die Gegenwart Gottes ist der Segen von Liebe und Weisheit, der in jedem Hier und Jetzt gegenwärtig ist – als dessen Freiheit in der Unschärfe des Würfelspiels des Lebens.

Dieser Segen ist der Segen der Unmittelbarkeit. Die Gegenwart Gottes ist unmittelbare Präsenz ausserhalb und innerhalb des Spiels. Ihr Segen verdankt sich jener unbedingten Freiheit, die frei ist von Bedingungen wie Raum und Zeit, Gut und Böse, aber mitten im Spiel dieses Universums gegenwärtig wird. Sie ist nicht zu fassen, doch unmittelbar evident, unvermittelbar, doch so offensichtlich, wie es nur der Augenblick sein kann. Der Segen dieser unmittelbaren Freiheit kann nicht verglichen und bewertet werden. Er ist kein Gut, das einem Böse gegenübersteht. Seine Wirkung ist unmittelbar. Sie läutert den Moment von Befangenheit, lässt die Würfel fliegen, schafft Ergebnisoffenheit. Sein Segen besteht nicht darin, Wünsche zu befriedigen und Ziele zu erreichen, sondern mit Spielfreude zu erfüllen und mit der Liebe der Gegenwart Gottes zur Weisheit in diesem Spiel vertraut zu machen. Damit wird aber auch dies klar: Der Segen der Unmittelbarkeit ist nur in dem Moment gegenwärtig, in welchem ich mich auf ihn einlasse. Stehe ich der Gegenwart Gottes im Wege, ist sie zwar unmittelbar gegenwärtig, bleibt mir aber verborgen. Ihre Gegenwart ist meine Gegenwart.

Was sich in diesen abstrakten Worten andeutet, versucht unser Predigttext gleichnishaft zu formulieren. Versuchen wir, seinen Worten näher zu kommen!

Er steht in der Mitte des zweiten Teils der ersten grossen Pauluspredigt der Apostelgeschichte. Im ersten Teil hat Paulus Israeliten und ebenso Gottesfürchtige angesprochen und ihnen vor Augen geführt, dass die Gegenwart Gottes für Israel segensreich gewesen ist. In Gottes Gegenwart sind die Erzväter erwählt worden, in ihr sind deren Nachkommen in Ägypten gross geworden. Die Gegenwart Gottes hat das Volk durch die Wüste getragen, dank ihr haben sie Land mit Erbrecht gewonnen und ihre Richter erhalten. Dann hat sich Gottes Gegenwart im König verdichtet, zuerst in Saul, vor allem aber in David, dem König nach Gottes Herzen. Und schliesslich ist Gott in einem Nachkommen Davids Gegenwart geworden: in Jesus, dem Retter Israels. Johannes der Täufer hat auf ihn verwiesen und verkündet, dass er nicht würdig ist, ihm die Schuhe von den Füssen zu lösen (Apg 13,16b-25). Eine erste grosse Epoche der Gegenwart Gottes ist damit zu Ende gegangen (Lk 16,16).

Der zweite Teil der Pauluspredigt wendet sich der darauffolgenden Epoche zu (Apg 13,26-37). Im Zentrum steht nun die Zeit, in welcher Gott in Jesus gegenwärtig ist. Paulus spricht die Anwesenden mit «Brüder» an und meint explizit ebenso die Nachkommen Abrahams wie die Gottesfürchtigen. Für sie alle wie für ihn selbst – er spricht von «uns» – ist das Wort von diesem Heil gesandt worden (V26). Worin dieses besteht, formuliert er nach traditioneller Skizze (1Kor 15,3-5) aus (VV27-31): Nicht Israel als Ganzes, wohl aber die Bewohner Jerusalems und ihre führenden Männer haben ihn verkannt und so die Stimme der Propheten, deren Wort doch jeden Sabbat vorgetragen wird, missachtet und damit ihr eigenes Urteil über sich gebracht. Obwohl sie an ihm nichts gefunden haben, was den Tod verdient hätte, haben sie Pilatus gebeten, ihn hinrichten zu lassen. Als sie alles vollbracht haben, was über ihn geschrieben steht, haben sie ihn vom Holz herabgenommen und in ein Grab gelegt. Gott aber hat ihn auferweckt von den Toten. Über viele Tage ist er denen erschienen, die mit ihm von Galiläa nach Jerusalem hinaufgezogen sind. Sie sind seine Zeugen vor dem Volk. Jesu Himmelfahrt und seine Gegenwart im Geist kommt nicht ausdrücklich zur Sprache, ist jedoch im Hinweis auf seine Auferweckung impliziert. Zu diesem lukanischen Verständnis der Ereignisse passt, dass Paulus nicht als Teil der Auferstehungszeugen präsentiert wird. Er gehört zur zweiten Generation, die durch ein eigenes mystisches Ereignis berufen ist (Apg 9,3-9). Was er nun verkündet, steht in unserem Predigttext.

Bei seiner Verkündigung beruft sich Paulus auf die Verheissung, die an die Väter ergangen ist (V32). Die Verankerung in Israels Tradition liegt ihm offensichtlich am Herzen. Diese Verheissung ist nun die frohe Botschaft. Denn sie ist in Erfüllung gegangen (V33). Gott hat sie uns, nämlich allen Kindern der Väter Israels, die hier und jetzt im Geist der Gegenwart Gottes ankommen, erfüllt. Geschehen ist dies dadurch, dass Gott Jesus auferstehen liess. Die Pointe der Erfüllung besteht also darin, dass Gott durch die Auferstehung Jesu den anwesenden Menschen die Fülle seiner Gegenwart offenbart. Der Blick ist auf die Auferstehung Jesu, in welcher Himmelfahrt und Pfingsten impliziert sind, gerichtet. Der Hinweis auf ein Psalmwort illustriert es. In singulärer Weise wird auf Psalm 2 hingewiesen: «Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt» (Ps 2,7). Das Psalmwort, das sich auf den König bezieht, wird an dieser Stelle auf Jesus gedeutet. Er ist der Nachkomme Davids, in welchem sich die an David ergangene Verheissung erfüllt (2Sam 17,12-16), er ist derjenige, der nun zur Rechten Gottes sitzt und im Geist gegenwärtig ist (Apg 2,33).

Die Fortsetzung präzisiert dies, indem sie Jesus von David abhebt (VV34-37). Gott liess Jesus von den Toten auferstehen, um ihn nie mehr an den Ort der Verwesung zurückkehren zu lassen. Die Auferstehung zeigt also die Fülle der Gegenwart Gottes jenseits der Dualität von Geburt und Tod. Eine komplizierte Kombination von Zitaten (Jes 55,3; Ps 16,10) deutet an, worin deren Mehrwert besteht. David ist gestorben und hat die Verwesung geschaut. Der aber, den Gott auferweckt hat, hat die Verwesung nicht geschaut. Er ist zwar gestorben, aber er ist nicht im Tod geblieben, sondern in die nichtduale Gegenwart Gottes auferstanden. In dieser Gegenwart geht es nicht um Ereignisse in Raum und Zeit, nicht um Geburt und Tod, nicht um Gut und Böse, sondern einzig und allein um die Gegenwart Gottes, und zwar als Gegenwart, deren Fülle den anwesenden Menschen ein Segen ist.

Das Nachsinnen über den heutigen Predigttext lädt uns dazu ein, uns auf die überfliessende Fülle der Gegenwart Gottes einzulassen. Die Botschaft, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, steht im Zentrum. Was also gibt diese Botschaft gleichnishaft von der Gegenwart Gottes zu verstehen?

Zunächst dies: Die Gegenwart Gottes ist ein schöpferischer Augenblick in Raum und Zeit, in welchem sich die Wirklichkeit dieses Universums zeigt. Verstehe ich sie als Messgrösse, in welcher der Raum der Zukunft zum Raum der Vergangenheit wird, offenbart sie mir die Raumzeit, die hier und jetzt für mich wirklich ist. Sie funktioniert gleichsam als Folie, vor der ich die Wirklichkeit wahrnehme. Gottes Gegenwart kommt dabei aber nicht in Blick. Will ich sie fassen, ist sie schon vorbei. Die Pauluspredigt deutet dies an, indem sie von der Auferstehung Jesu als vergangenem Ereignis erzählt. Jesus ist denen, die mit ihm von Galiläa nach Jerusalem hinaufgezogen sind, viele Tage erschienen. Die Auferstehung Jesu ist ein Ereignis, das dann und dort geschehen ist, hier und heute aber als Geschichte erinnert wird. Raum und Zeit dienen als Parameter, anhand deren die Auferstehungsgeschichte erzählt wird, doch der schöpferische Augenblick, der darin zur Sprache kommt, ist nichts weiter als eine vergangene Geschichte. Blicke ich so auf die Gegenwart Gottes, kann ich von ihr Geschichten erzählen, doch zu einem eigenen Verstehen komme ich nicht. Ich merke, wie die Zeit rennt und ständig Zeit vergeht, doch der Moment bleibt mir unzugänglich.

Allerdings ist dies nicht die ganze Wirklichkeit. Auch wenn Zukunft ständig Vergangenheit wird, gibt es Momente, in denen dies bedeutungslos ist und der Segen der Unmittelbarkeit gegenwärtig wird. Deshalb verkündet Paulus in seiner Predigt die Auferstehungsgeschichte als gute Botschaft für alle, die hier und jetzt da sind. Denn dies ist der Moment, in dem die alten Verheissungen in Erfüllung gehen, dies ist der Moment, in dem das, was in der Geschichte vom Auferstandenen bezeugt wird, dank dem Geist in allen, Juden und Gottesfürchtigen, und allem, im ganzen Universum, gegenwärtig wird. Das Hier und Jetzt ist in einem solchen Moment nicht bloss eine Messgrösse, sondern der Augenblick, in welchem dessen bedingungslose, schöpferische Freiheit offenbar wird. Die Botschaft von der Auferstehung illustriert es gleichnishaft: Ist Gott gegenwärtig, geschieht etwas, das nicht in dualen Kategorien wie Geburt und Tod, Raum und Zeit, Gut und Böse zu fassen ist, etwas, das jenseits davon und doch hier und jetzt als Liebe und Weisheit gegenwärtig ist. Bin ich davon erfasst, ist die Botschaft von der Auferstehung nicht mehr nur eine vergangene Geschichte, sondern ein mystisches Ereignis, in welchem die überfliessende Fülle der Gegenwart Gottes unmittelbar zum Segen wird.

Dieses mystische Ereignis, das Paulus gleichnishaft als Jesu Auferstehung verkündet, ist ständig gegenwärtig und in allen und allem am Werk. Es greift nicht ein, indem es dieses bewirkt und jenes verhindert. Es ist stattdessen die Freiheit in der Unschärfe der fliegenden Würfel im Hier und Jetzt, die Präsenz von Liebe und Weisheit im Spiel dieses Universums, die überfliessende Fülle, die frei von dualen Kategorien mitten in diesen als Segen der Unmittelbarkeit gegenwärtig ist. Für den, der von ihm erfasst ist, ist es völlig evident, der Vermittlung durch Worte aber bleibt es entzogen. Paulus begnügt sich deshalb in seiner Predigt damit, auf den Auferstandenen zu verweisen. Ihn hat Gott zu seinem Sohn gemacht, ihn hat er heute gezeugt. Gleichnishaft deutet er so an, wie Gottes überfliessende Fülle hier und jetzt gegenwärtig ist. Realisiere ich, dass ich wie Jesus von Gott gezeugt bin, ist die Fülle seiner Gegenwart mitten in meiner Zeit, mitten in meinem Leben zwischen Geburt und Tod fraglos gegeben. Dann lebe nicht mehr ich, sondern das, was sich im auferstandenen Christus manifestiert, lebt in mir (Gal 2,20), dann bin ich wie Christus hier und jetzt nichts als die Gegenwart Gottes, nichts als ihre überfliessende Fülle. Völlig offensichtlich und völlig unerklärbar.

Die Botschaft von der Gegenwart Gottes klingt so einfach. Doch der Weg, sie zu realisieren, hat kein Ende und beginnt jeden Moment neu. Diesen Weg können wir nur in der Gnade Gottes gehen, Tag und Nacht, bei klarem Verstand und im Schlaf, engagiert und unaufgeregt. Er stärkt den Körper, weitet das Herz und nährt die Seele, ob wir gesund oder krank sind, ob wir Glück oder Pech haben, ob wir mit Erfreulichem oder Schwierigem konfrontiert sind. Die Gegenwart Gottes ist der Segen der Unmittelbarkeit – überfliessende Fülle ohne Worte. Beten wir also, dass wir von ihr erfasst werden und die Würfel fliegen lassen. Amen.

[1] Zeilinger, Anton (2007, 13. Aufl.): Einsteins Spuk. Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik. München: Goldmann: 74-91.

Predigt vom 20. Oktober 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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