Freiheit der Demut

Freiheit der Demut

Petrus nun wurde im Gefängnis bewacht, die Gemeinde aber betete unablässig für ihn zu Gott. In der Nacht, bevor Herodes ihn vorführen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, an die er mit zwei Ketten gefesselt war, während Posten vor der Tür das Gefängnis bewachten. Und siehe da: Ein Engel des Herrn trat zu ihm, und Licht erstrahlte im Verlies. Er stiess Petrus in die Seite, weckte ihn und sprach: Steh eilends auf! Da fielen ihm die Ketten von den Händen. Der Engel sagte zu ihm: Gürte dich und binde deine Sandalen. Er tat es. Und er sagte zu ihm: Leg dir den Mantel um und folge mir! Und er ging hinaus und folgte ihm – er wusste jedoch nicht, dass es Wirklichkeit war, was durch den Engel geschah, er meinte, eine Vision zu haben. Sie gingen nun an der ersten und zweiten Wache vorbei und kamen an das eiserne Tor, das in die Stadt führt; es öffnete sich ihnen von selbst, und sie traten hinaus und gingen eine Strasse weit. Kurz danach schied der Engel von ihm. Apg 12,5-10

Pfingsten ist das Fest der Freiheit Gottes im heiligen Geist. Die Freiheit Gottes im heiligen Geist waltet in diesem Universum. Sie ist durch nichts bedingt, aber doch ständig und überall gegenwärtig – aus purer Gnade. Ihre bedingungslose Gegenwart schafft das kosmische Spiel der Wahrscheinlichkeiten. Dieses Spiel hat seine Gesetze und seine Zufälle, sein Werden und Vergehen. In ihm ist dieses Universum entstanden, in ihm entwickelt es sich ständig weiter, in ihm manifestiert es jeden Moment die Gnade der Freiheit Gottes. Der heilige Geist ist die theologische Formel für dieses Geheimnis der Gegenwart Gottes, das in diesem Universum waltet und jeden Augenblick gegenwärtig ist.

Der christliche Glaube gründet in der Überzeugung, dass Menschen dank ihrem Bewusstsein die Chance haben, sich mit dieser Freiheit vertraut zu machen. Aus seiner Sicht ist dies die Befreiung des Menschen. Er ermutigt deshalb dazu, ihr Bewusstsein in den Abgrund der Demut zu ergeben, sich und alles Gewirbel der Welt zu lassen und zu realisieren, dass an der Stelle des Ich nichts als Gottes befreiende Gnade gegenwärtig ist. Dieser Prozess ist ein Sterben mitten im Leben, eine Befreiung von sich zu sich, ein Seinlassen, um sein zu können. Er schafft Unmittelbarkeit, ohne sich selbst im Weg zu stehen, gibt Lebensfreude, auch wenn Schwieriges herumwirbelt und integriert in das kosmische Spiel, das nicht aufhört, Geheimnis zu bleiben. In dieser postchristlichen Zeit mag das Verständnis für diese Freiheit des heiligen Geistes keine Selbstverständlichkeit sein. Doch ist jetzt vielleicht gerade ihr Moment gekommen, um frei von traditioneller Befangenheit ihr Geheimnis zu entdecken.

Unser Predigttext versucht das, was sich in diesen abstrakten Worten andeutet, am Beispiel einer konkreten Geschichte zu illustrieren. Er erzählt eine Geschichte, die in die Gattung der Befreiungswundergeschichten gehört (vgl. Apg 5,17-26). Im Kontext der Apostelgeschichte ereignet sie sich zur Zeit, als sich der Schwerpunkt der frühen christlichen Gemeinde bereits von Jerusalem nach Antiochia verlegt hat und Barnabas und Saulus von dort die Kollekte für die hungernde Gemeinde nach Jerusalem bringen (Apg 11,30; 12,25). Die beiden werden auf diese Weise zugleich Zeugen einer weiteren Verfolgung der Gemeinde in Jerusalem. Eine knappe Notiz erzählt davon (Apg 12,1-4). Sie bildet den Hintergrund für die darauffolgende Befreiungsgeschichte. Der vom römischen Kaiser Claudius über Palästina eingesetzte König Herodes Agrippa I will nämlich den Juden gefallen und bekämpft die judenchristliche Gemeinde in Jerusalem. Er lässt den Zebedaiden Jakobus, den Bruder des Johannes (Lk 5,10; 6,14 u.ö.; Apg 1,13), durch das Schwert hinrichten. Von einen fairen Gerichtsprozess ist nicht die Rede. Und als er sieht, dass es der jüdischen Bevölkerung gefällt, lässt er auch Petrus gefangen nehmen. Es ist die Zeit des Passa. Es befinden sich viele Festpilger in der Stadt, und König Herodes Agrippa kann seine projüdische Haltung öffentlich zur Schau stellen. Für Lukas schafft der Hinweis auf das Passa zugleich eine Parallele zur Gefangennahme Jesu (vgl. Lk 22,1.7). Petrus wird ins Gefängnis geworfen und streng bewacht. Vier Abteilungen zu je vier Soldaten werden zu seiner Bewachung aufgeboten. Agrippa hat die Absicht, Petrus nach dem Passa dem Volk vorzuführen.

Soweit der Kontext für unseren Predigttext. Petrus ist also im Gefängnis, wird bewacht, und die Gemeinde betet unablässig für ihn zu Gott (V5). Erzählt wird nun, was in der Nacht, bevor ihn Herodes Agrippa dem Volk vorführen will, geschieht (V6). Petrus schläft im Gefängnis zwischen zwei Soldaten, an die er mit zwei Ketten gefesselt ist, während die zwei weiteren Soldaten der Abteilung vor der Tür Wache halten. Und siehe da, plötzlich geschieht Erstaunliches (V7). Ein Engel Gottes tritt zu ihm, und Licht erstrahlt im Verlies. Für den Engel sind Mauern und Wächter offensichtlich keine Hindernisse. Seine Präsenz ist Licht. Der Engel stösst Petrus in die Seite, weckt ihn auf und spricht: Steh sofort auf! Dass Petrus dem Befehl Folge leistet, wird vorausgesetzt, aber gar nicht erst erwähnt. Festgehalten wird stattdessen, dass die Ketten von seinen Händen fallen. Offenbar bemerken die Wächter nichts von all dem. Der Engel drängt vorwärts (V8). Er sagt ihm: Gürte dich und binde deine Sandalen. Er nimmt dies Petrus nicht ab, sondern ermächtigt ihn dazu, es selber zu tun. Und Petrus tut es. Darauf sagt ihm der Engel: Leg dir den Mantel um und folge mir! Vermutlich hat Petrus auf dem Mantel geschlafen. Nun soll er mit dem, was er hat, dem Engel folgen. Erst jetzt kommt in Blick, wie es Petrus bei all dem geht (V9). Petrus geht zwar hinaus und folgt dem Engel, doch ist ihm nicht klar, dass das, was gerade geschieht, Wirklichkeit (ἀληθές: wahr, wirklich, echt) ist; er meint, eine Vision zu haben. Unbeirrt davon wird nüchtern und knapp festgehalten, was geschieht (V10). Der Engel, und hinter ihm Petrus, gehen an der ersten und an der zweiten Wache vorbei und kommen zum eisernen Tor, das vom Gefängnis in die Stadt führt. Es öffnet sich von selbst. Das hier verwendete αὐτόματος – automatisch verweist auf die unmittelbare Wirksamkeit, durch die Gottes Freiheit im Geist gegenwärtig ist. Ebenso wie durch sie Ketten abfallen, öffnen sich durch sie verschlossene Eisentore. Der Engel und Petrus treten durch das Tor in die Stadt hinaus und gehen eine Strasse weit. Als sie gleichsam um die Ecke verschwunden sind und Petrus in Sicherheit ist, scheidet der Engel so plötzlich von Petrus wie er im Verlies bei ihm erschienen ist.

Die Fortsetzung erzählt dann, wie es mit Petrus weitergeht. Er beginnt zu begreifen, dass er tatsächlich durch einen Engel Gottes befreit worden ist und geht an den Ort, wo sich viele der Gemeinde aufhalten und für ihn beten. Das Erstaunen ist gross. Doch Petrus ist sich bewusst, dass er in Gefahr ist. Er heisst sie zu schweigen, und er verlässt Jerusalem. Seine wunderbare Befreiung aus dem Gefängnis bleibt geheimnisvoll, aber illustriert zeichenhaft, was durch Gottes Gegenwart möglich ist.

Die Geschichte, die hier erzählt wird, klingt in heutigen Ohren wie eine Legende mit all ihren verschiedenen Schichten der Wirklichkeit. Denken wir jedoch jetzt, an Pfingsten, über sie nach, lädt sie uns dazu ein, über die Freiheit Gottes nachzudenken, die im heiligen Geist gegenwärtig wird, die durch sie geschaffen werden. Was erzählt uns diese Geschichte gleichnishaft über die Freiheit Gottes?

Zunächst macht sie deutlich, dass die Freiheit Gottes im heiligen Geist ein bedingungsloses Ereignis ist – ein Akt reiner Gnade. Es gibt nichts, das erfüllt sein müsste, damit Gottes Freiheit gegenwärtig wird, es gibt aber auch nichts, das sie herbeiführen könnte. Jakobus wurde durch das Schwert hingerichtet. Kein Engel hat ihn gerettet. Ein Engel hat hingegen Petrus völlig unerwartet aus dem streng bewachen Verlies befreit. Im Wahrscheinlichkeitsfeld zwischen Gott und der Evolution dieses Universums samt der Geschichte dieser Welt ist ständig alles möglich. Gott ist jeden Moment gegenwärtig. Doch weshalb seine Gegenwart bei Jakobus so und bei Petrus so geschieht, ist reiner Zufall. Es kann sehr wohl Faktoren bzw. Gründe geben, welche die Wahrscheinlichkeit für dieses oder jenes Ereignis gegen eins treiben oder gegen null senken. Erzwingen oder ausschliessen lässt sich jedoch nichts. Das Wahrscheinlichkeitsfeld umgibt jeden Moment wie eine geheimnisvolle Wolke und lässt sich auf keine Art und Weise beseitigen. Jeder Moment behält sein Geheimnis – oder theologisch gesprochen: seine Gnade, seine bedingungslose Freiheit. Darin ist Gott als heiliger Geist mit seiner Information, seiner Liebe und Weisheit, gegenwärtig. Doch worin er sich konkret kristallisiert, bleibt zufällig.

Als Mensch kann ich allerdings jeden Moment entscheiden, ob ich mich auf dieses Geheimnis der Gegenwart einlasse oder nicht. Verschliesse ich mich ihm, ist die Freiheit, die in diesem Geheimnis steckt, rasch verschwunden, und alsbald finde ich mich in der Realität wieder, wie ich sie kenne. Lasse ich mich hingegen im Abgrund meiner Demut auf diese Freiheit ein, und folge ich ihr ohne Zögern, führt sie mich – wie Alice – in ein Wunderland. Als der Engel im Verlies erscheint, versteht Petrus vorerst überhaupt nichts. Das Gefängnis konfrontiert ihn mit seiner Demut. Doch auf einmal erfüllt ihn die Gnade des Moments. Befreit von sich selbst, tut er, was sie ihm gebietet. Die Ketten, die ihn fesseln, fallen von ihm ab, die Soldaten, die ihn bewachen, bleiben schlafen. Unvermittelt tritt er seinen Weg in die Freiheit an, ohne zu verstehen, dass das, was er gerade erlebt, viel realer ist, als was er meint. Stehe ich mir mit meinem Eigenwillen nicht im Weg und lasse ich mich stattdessen auf die Gnade des Moments ein, wird das Wunderland Realität: Fesseln, die mich gefangen halten, fallen ab, und Wächter, die meine Freiheit verhindern, starten nicht auf. Ich sehe den Ausweg, merke, dass es noch anders geht und finde den Ansatz zu einer Lösung. Selbst wenn ich im Moment noch nicht in der Lage bin, zu verstehen, was gerade geschieht. Die Freiheit Gottes ist bedingungslos und unbegrenzt. Bin ich in der Gnade des Moments, erschliessen sich Dinge, die überhaupt nicht auf meinem Radar sind.

Was sich auf diese Weise ereignet, wird ganz von selbst Realität. Kein menschlicher Willensakt ist nötig, kein Kampf und keine Mühe sind vorausgesetzt. In der Gnade des Moments organisiert sich die Wirklichkeit selbst und wird, was sie aus sich selbst werden will. Lasse ich mich auf das Geheimnis der Gegenwart ein, realisiere ich, wie dies geschieht. Die Geschichte von der Befreiung des Petrus illustriert es. Frei von sich selbst folgt Petrus dem Engel und erlebt, wie seine Wirklichkeit automatisch eine andere wird. Das eiserne Tor öffnet sich von sich selbst, er tritt in die Freiheit und kommt in die Stadt, die ihm bestens vertraut ist. Was er im Moment der Gnade erlebt, kann er nicht fassen. Vision und Wirklichkeit vermischen sich. Auch für ihn bleibt die Selbstorganisation der Wirklichkeit geheimnisvoll. Aber er realisiert ganz unmittelbar am eigenen Leib, dass sie im Gang ist, und nach und nach, dass sie nun seine Realität konstituiert. Auf einmal hat er das Gefängnis hinter sich gelassen und steht auf freiem Fuss. In einem Moment der Gnade realisiere ich, dass gerade etwas Irreversibles geschieht, etwas, das aus sich selbst die Wirklichkeit verändert und meiner Kontrolle entzogen ist, etwas, das ich bedingungslos zu akzeptieren habe, weil es so geschehen muss. Da ist meine Demut gefordert. Aber in einem Moment der Gnade wird mir klar, wie klein alles menschliche Tun ist im Vergleich zur Selbstorganisation der Wirklichkeit dieser Welt und dieses Universums.

Die Freiheit Gottes im heiligen Geist ist jeden Moment gegenwärtig. Pfingsten ruft es uns heute in Erinnerung. Das Geheimnis, das damit zur Sprache kommt, bleibt auch in unserer postchristlichen Zeit am Werk. In all unserem Tun und Lassen, im ganzen Universum ist es gegenwärtig. Es liegt an uns selbst zu entscheiden, ob wir uns von ihm führen lassen oder ob wir uns unsere Welt nach unserem Willen und Gutdünken konstruieren wollen. Beten wir, dass wir von der Freiheit Gottes im heiligen Geist erfasst werden und lernen, seiner Güte und seiner Weisheit zu folgen. Amen.

Predigt vom 19. Mai 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

PDF Datei herunterladen