The power in weakness

The power in weakness

Der Hohe Priester aber erhob sich samt allen seinen Anhängern, der Partei der Sadduzäer; erfüllt von wildem Eifer ergriffen sie die Apostel und liessen sie vor den Augen des Volkes in Gewahrsam nehmen. Ein Engel des Herrn aber öffnete nachts die Tore des Gefängnisses, führte sie hinaus und sprach: Geht, tretet im Tempel auf und verkündigt dem Volk das volle Wort des Lebens, das sich euch jetzt eröffnet hat. Sie hörten es und gingen noch in der Morgendämmerung in den Tempel und lehrten. Als nun der Hohe Priester und seine Anhänger eintrafen, riefen sie den Hohen Rat zusammen und die gesamte Ratsversammlung Israels und schickten zum Gefängnis, um sie vorführen zu lassen. Apg 5,17-21

Heute ist Palmsonntag, heute steht jene Ambivalenz im Zentrum, in welcher Gott gegenwärtig ist. Die Geschichte von Palmsonntag illustriert sie. Einerseits geht es Jesus einzig und allein um die Nähe des Gottesreichs. Seine Kraft kommt nicht von dieser Welt, und er will nichts anderes als die Freiheit Gottes nahebringen, heilen und erlösen. An Palmsonntag wird er deswegen gefeiert. Andererseits wirkt er in die Welt und ist in das herrschende politische Machtsystem verwickelt. Rufen ihn seine Jünger an Palmsonntag als König aus (Lk 19,38), kann dies das politische Establishment kaum anders denn als Provokation auffassen. Es überrascht nicht, wenn es reagiert. Doch würden die Jünger verstummen, müssten die Steine schreien (Lk 19,39f). Gott ist jeden Moment gegenwärtig, in der ganze Schöpfung, selbst in den Steinen. Würden dies die Jünger nicht mehr mit ihren Worten verkünden, würde es die ganze Schöpfung immer noch ohne Worte tun. Die Gegenwart Gottes ist bedingungslose Präsenz, aber mitten in den Bedingungen der Geschichte bekommt sie ihre Bedeutung. Sie ist frei von allem Politischen, aber mitten im Politischen entwickelt sie ihre Kraft.

Allerdings bleibt diese Ambivalenz auch ambivalent zwischen Stärke und Schwäche. Die Stärke, die Jesus an Palmsonntag erlebt, kippt bereits wenige Tage später in Schwäche. Jesus wird verraten und verleugnet, gefoltert und verurteilt, schliesslich hingerichtet. Palmsonntag und Karfreitag sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Gegenwart Gottes ist Stärke. Sie ist jeden Moment als schöpferische Kraft am Werk und gibt dieser Welt ihre Zeit. Und sie ist Schwäche, die jeden Moment von dieser Welt bedroht wird, ständig im Prozess des Vergehens ist und den herrschenden politischen Mächten anheimfällt. Die beiden Seiten sind von der Gegenwart Gottes nicht zu trennen. Entscheidend ist deshalb, Gott als jene nicht-duale Unmittelbarkeit zu realisieren, die weder dies noch das ist, beides und doch nichts von beidem: das Nichts purer Präsenz in allen Dingen.

Mose, Abraham, die Propheten und viele andere haben diese nicht-duale Gegenwart Gottes bewusst gelebt. Die Beter der Psalmen haben um sie gerungen. Jesus hat sie verkörpert, und in seinen Spuren haben sie die Apostel entdeckt und verwirklicht. Lukas hat dies gut begriffen, und er versucht mit seiner Apostelgeschichte deutlich zu machen, dass die Geschichte, in welcher Menschen diese Nähe Gottes erlebt haben, nicht zu Ende ist, sondern dass sie – auch nach Jesus und in alle Zukunft – immer weiter geht. Die Zeiten mögen sich ändern – die Gegenwart Gottes ist ständig am Kommen. Unser Predigttext illustriert, was dies bedeutet.

Unmittelbar vorher hat Lukas festgehalten, was sich in Urgemeinde für den Aufbau der Gemeinde bewährt hat: dass die Apostel einträchtig miteinander in der Gegenwart Gottes, die den Namen von Jesus Christus dem Nazarener trägt, verbunden sind, dass durch sie viele Wunder und Zeichen geschehen und dass unzählige Menschen von ihren Leiden geheilt werden und Erlösung finden. Aus seiner Sicht bildet eine solche Elite gereifter Persönlichkeiten die Säulen, die den Tempel des Urchristentums getragen haben. Allerdings ist diese Stärke auch seine Schwäche. Denn diese Persönlichkeiten werden – die Geschichte von Jesus hat es auch schon gezeigt – vom herrschenden politischen System bekämpft. Mit unserem Predigttext fügt er diesem Kampf eine weitere Episode hinzu.

Er berichtet hier, dass die Erfolge der Apostel im Volk den Widerstand der herrschenden, jüdischen Elite wecken. Der Hohe Priester samt allen seinen Anhängern, der Partei der Sadduzäer, erhebt sich. Im Unterschied zu den Pharisäern lehnen die Sadduzäer den Glauben an eine Auferstehung der Toten ab und bestreiten damit das Fundament der urchristlichen Gemeinde (vgl, Apg 4,1f). Aus Sicht von Lukas geschieht dieser Widerstand erfüllt von eiferndem Neid. Die Apostel verzeichnen beim Volk mehr Erfolg als sie. Der Neid drängt sie, Gewalt anzuwenden. Sie legen Hand an und lassen die Apostel vor den Augen des Volkes in Gewahrsam nehmen. Die öffentliche Sichtbarkeit der Verhaftung ist Lukas wichtig. Sie dokumentiert die Stärke des politischen Widerstands, dem die Apostel in ihrer Schwäche ausgeliefert sind, und sie beglaubigt, dass die Apostel tatsächlich ins Staatsgefängnis gesteckt werden. Für die Fortsetzung ist beides bedeutsam.

In der kommenden Nacht geschieht nämlich Wundersames. Werden die Apostel am Tag gewaltsam inhaftiert, stellt Lukas die Nacht als Zeit der Befreiung dar (Apg 12,6; 16,9). Denn nachts ist ein Engel Gottes am Werk. Über sein Kommen und Gehen sagt er nichts. Lukas konzentriert den Auftritt des Engels auf dessen Wirken und Reden: Er öffnet nachts die Tore des Gefängnisses, das durch ein doppeltes Tür- und Wachsystem gesichert ist (vgl. Apg 12,6.10), führt die Apostel hinaus und gibt ihnen den Auftrag, zu gehen, im Tempel aufzutreten und dem Volk das volle Wort des Lebens zu verkünden, das sich ihnen jetzt eröffnet hat. Denn am eigenen Leib haben sie nun erfahren, was sich gleichnishaft im Auferstehungsglauben verdichtet: Die Gegenwart Gottes befreit aus dem bestens bewachten Gefängnis. Sie schafft in der Not Heilung und verwandelt die eigene Schwäche in Stärke. Wie sie zu dieser Erfahrung kommen, erklärt Lukas nicht. Die Metapher vom Engel Gottes bleibt blass und geheimnisvoll. Doch sie deutet an, dass die Gegenwart Gottes eine Kraft ist, die ständig wirksam werden kann und die frei von allem Politischen mitten im Politischen Freiheit bringt – als Stärke, die Schwäche erträgt und darin Erlösung schafft.

Als die Apostel die Botschaft des Engels hören, machen sie sich unverzüglich auf den Weg. Noch im Morgengrauen gehen sie zum Tempel und lehren. Sie übertreten damit erneut das ihnen auferlegte Redeverbot (Apg 4,18), nehmen die Parrhesia, also die freie, aufrichtige Rede, weiterhin ohne jedes Zögern in Anspruch (Apg 4,13; 29.31) und stehen wiederum für jene Gegenwart Gottes ein, die für sie den Namen von Jesus Christus dem Nazaräner trägt – nun freilich, nachdem sie in der Schwäche die befreiende Stärke dieser Gegenwart am eigenen Leib erfahren haben. Was sich gleichnishaft als Auferstehungsglaube manifestiert, ist in ihnen Realität geworden.

In der Fortsetzung erzählt Lukas, dass der Hohe Priester und seine Anhänger von all dem nichts mitbekommen haben. Als sie am nächsten Morgen die jüdische Elite zusammenrufen und nach den Gefangenen schicken, um sie vorzuführen, stellt sich heraus, dass diese nicht mehr da sind. Die Gerichtsdiener berichten ihnen vielmehr, dass die Türen zum Kerker verschlossen sind, dass alles rundum gesichert ist, dass die Wachen stehen und nicht schlafen. Das befreiende Wunder wird also indirekt auch durch sie beglaubigt. Es breitet sich deshalb grosse Verlegenheit aus. Doch da kommt bereits die Meldung, dass die befreiten Gefangenen im Tempel das Volk lehren. Sofort machen sich der Hauptmann und seine Gerichtsdiener auf den Weg, um sie wieder abzuführen und herbeizubringen. Allerdings verzichten sie diesmal auf Gewaltanwendung, weil sie Angst haben, das Volk könnte sie steinigen.

Lukas gibt uns mit dieser Geschichte etwas zu bedenken, das wir heute kaum tief genug verstehen können: Die Gegenwart Gottes ist eine Kraft, deren Kommen durch nichts und niemanden aufgehalten werden kann. Ihre schöpferische Stärke gibt jedem Moment – frei von allem Politischen, frei von allen Mächten dieser Welt – seinen Atem. Die Mächte dieser Welt indes bedrohen und verschlingen diese Stärke, nutzen politische und alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, und verwandeln ihre Stärke in Schwäche. Doch die Gegenwart Gottes ist ebenso in der Stärke wie in der Schwäche. Sie ist frei von beidem, unfassbar – ein bedingungsloses Nichts befreiender und erlösender Präsenz. Als solche ist sie unbesiegbar. Wie auch immer die Lebensbedingungen sind – sie ist ständig am Kommen.

Lukas illustriert diese Überzeugung mit einer Geschichte über die Inhaftierung der Apostel, dem Befreiungswunder durch einen Engel und ihrem erneuten Lehren im Tempel. Diese Geschichte wirkt legendenhaft. Doch sie macht deutlich, was Lukas mit dem Glauben an die Auferstehung gleichnishaft vermitteln will: Die Stärke der Nähe Gottes kann in Schwäche kippen, sie kann einen Kreuzweg vollziehen, und sie kann sogar sterben – zum Verstummen bringen und auslöschen lässt sie sich nicht. Im politischen Kampf hält die Gegenwart Gottes die Flamme der Freiheit am Leben, im Schmerz hält sie den Balsam zur Heilung bereit, im Angesicht des Todes schafft sie das Vertrauen, aufgehoben zu werden.

Wie stellen wir uns heute zu dieser Botschaft? Ist sie naiv und realitätsfremd? Unzählige Menschen harren in russischen Gefängnissen, weil sie den wahnwitzigen Angriffskrieg ihrer Regierung kritisieren. Uiguren werden in chinesische Gefangenlager gesteckt, um sie von ihrem Glauben umzuerziehen und der herrschenden Doktrin zu unterwerfen. Im Iran werden Mädchen vergiftet, um den Ruf der Freiheit zu ersticken und das autoritäre Regime zu stützen. Wie können wir im Angesicht solcher und vieler weiterer Beispiele an der Botschaft von Lukas festhalten? Sie mag zu ihrer Zeit stark und erfolgreich gewesen sein, doch ist sie unterdessen nicht schwach, abgelutscht und verbraucht? Zeigt unsere postchristliche Zeit nicht gerade, dass sie in das Reich der Legenden und Märchen gehört und heute vernachlässigt werden kann?

Die christliche Botschaft hat in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr die Dominanz, die sie in früheren Jahrhunderten gehabt hat. Sie mag selten offen bekämpft werden, doch im lauten Wettbewerb um Aufmerksamkeit wird sie umso häufiger überhört und ignoriert. Hat sie deshalb ihre Kraft verloren? Aus meiner Sicht ist die Fähigkeit zur Schwäche gerade die Stärke der christlichen Botschaft. Ihr Zeichen ist das Kreuz. In diesem Zeichen vertritt sie eine Bewältigungsstrategie, die sich über die Jahrhunderte bewährt hat und nach wie vor funktioniert: Sie igelt sich nicht in einer religiösen Bubble ein, unterstützt keinen narzisstischen Ich-muss-nur -wollen-Kult und kämpft nicht für einen politischen Idealzustand. Vielmehr trianguliert sie die Stärke ihrer Gegenwart Gottes und lässt sich auf diese Welt ein, wie sie ist. Sie akzeptiert die Mächte der Welt, kalkuliert deren Widerstand ein und nimmt die eigene Schwäche, das eigene Versagen und Scheitern in Kauf. Doch sie tut dies in der reifen Gewissheit, dass diese Welt nicht aus der Gegenwart Gottes herausfallen und isoliert von ihr existieren kann, dass sie vielmehr jeden Augenblick in ihrer Güte und Weisheit steht und von ihr verwandelt wird. Daher vertraut sie, dass es in Gefangenschaft Befreiung gibt, in Schmerz und Not Heilung, in Verstrickung und Chaos Erlösung. Ihre Stärke ist ihre Schwäche, weil sie weiss, dass die Gegenwart Gottes mitten in Stärke und Schwäche jeden Moment die Kraft ist, von der sie lebt.

Wie könnte es uns in unserer Wohlstandsgesellschaft leichtfallen, die Bubble unserer Stärke und Annehmlichkeit zu öffnen, uns zu triangulieren und uns auf jene Mächte dieser Welt einzulassen, die uns mit unserer Schwäche, mit Leid und Not, ja mit unserem Tod konfrontieren! Doch um genau das zu tun, stärkt uns die christliche Botschaft den Rücken. Sie fördert unsere Resilienz, unsere Frustrationstoleranz, unsere Standhaftigkeit, und sie motiviert uns, die Mächte dieser Welt zu akzeptieren, wie sie sind, politischen Widerstand einzukalkulieren und unser eigenes Versagen und Scheitern hinzunehmen. Auf diese Weise führt sie uns in einen Prozess der Reifung, auf welchem wir lernen, unsere Welt in der Gegenwart Gottes immer klarer so anzunehmen und zu leben, wie sie ist. Beten wir also, dass uns der heutige Palmsonntag jenen Weg weist, auf welchem wir Stabilität und Frieden in Stärke und Schwäche, Wohlergehen und Leiden finden. Amen.

Predigt vom 2. April 2023 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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