Diese Gesinnung heget in euch, die auch in Christus Jesus war, der, als er in Gottes
Gestalt war, es nicht für einen Raub hielt, wie Gott zu sein, sondern sich selbst entleerte,
indem er Knechtsgestalt annahm und den Menschen ähnlich wurde; und der Erscheinung
nach wie ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum
Tod, ja bis zum Tode am Kreuz. Daher hat ihn auch Gott über die Massen erhöht und ihm
den Namen geschenkt, der über jeden Namen ist, damit in dem Namen Jesu sich beuge
jedes Knie derer, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und jede Zunge
bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. Phil 2,5-11
Liebe Gemeinde
Er entleerte sich selber und wurde gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz.
Was sich an Radikalität in diesem Satz verbirgt, ist kaum zu überbieten. Es ist ein Satz,
der eine Atmosphäre von Unheimlichkeit verströmt, die berührt, die einem aber auch die
Furcht in die Glieder treibt und unsere Schutzmechanismen aktiviert. Wir vermögen
vielleicht zu ahnen, dass sich in ihm viel Wahres verbirgt, aber es läuft uns kalt den
Rücken herunter, wenn wir hinschauen sollten, was es sein könnte. Aber genau dies
wollen wir nun gemeinsam Schritt für Schritt tun. Nicht um uns zu quälen, sondern um zu
erleben, dass wir dadurch, dass wir uns Wahres bewusst machen, geheilter, friedlicher
und mit Würde geschmückt voranschreiten können.
Die Entleerung, die Kenosis, wie das griechische Wort dafür lautet, von der hier die Rede
ist, ist ja zunächst auf Jesus Christus bezogen. Von ihm wird in diesem frühchristlichen
Hymnus erzählt, dass er als er vor aller Zeit in Gottes Gestalt war, sein Gottsein nicht für
sich wie einen Raub festhielt, sondern dass er sich entleere.
Um dies besser zu verstehen, kann man an den alten Mythos denken, welcher
erzählt, dass sich einige der ganz hohen Engel gegen Gott erhoben hatten, um seinen
Thron zu stürzen, deswegen aber von Gott bestraft, aus dem Himmel verbannt und in die
Hölle geworfen wurden. Dieser Mythos wird erzählt, um zu erklären, woher das Böse auf
dieser Welt kommt; denn von den rebellischen und bestraften Engeln wird berichtet, dass
genau sie die Dämonen und Teufel sind, die als Gegenkräfte Gottes um die Herrschaft auf
der Erde kämpfen. Im Unterschied zu diesen Engeln, die damals, als sie noch im Himmel
waren, gegen Gott revoltierten, wird nun von Jesus Christus gesagt, dass er, als er im
Himmel war, das Himmlische nicht für sich in Anspruch nahm, sondern sich selbst davon
entleerte. Er konnte im himmlischen Zustand sein, ohne daraus für sich einen
Machtanspruch zu entwickeln und war bereit, freiwillig auf diesen Zustand zu verzichten.
Was also Jesus Christus nach diesem Mythos zunächst qualifiziert, ist die Freiheit von
sich selbst; die Freiheit, nicht um sich selbst kämpfen und für sich Herrschaft und Macht
erwerben zu wollen. Er hat die Freiheit, sich von diesem Thema zu entleeren. Freiwillig
und vollständig.
Erläutert wird das Leerwerden in diesem Hymnus als erstes gegenüber dem präexistenten
Gottsein. Es bezeichnet dies den Inhalt dessen, wovon er sich entleerte. In einem zweiten
Schritt berichtet der Hymnus jedoch, wie dieses Leerwerden geschah. Er erzählt nämlich,
dass Jesus Christus Knechtsgestalt annahm und den Menschen ähnlich wurde. Der, der in
der Gestalt Gottes war, unterwarf sich den Bedingungen des Zeitlichen, wurde einer, der
von den Gesetzen der Welt geknechtet wurde und das Leben eines Menschen lebte, wie
es demjenigen von Menschen entspricht. Aufgrund seiner besonderen Herkunft blieb er
etwas Besonderes, aber er war ein Mensch, der der Erscheinung nach in jeder Hinsicht
das war, was einen Menschen ausmachte. Die Art und Weise, in der das Leerwerden
geschah, war also die des Menschlichen, diejenige, die auf jede himmlische Macht
verzichtet und sich statt dessen den Gesetzen der Welt voll und ganz unterwirft, die für
jeden Menschen gelten. Es ist das Leerwerden, das darauf verzichtet, Gott bei Bedarf als
höhere Macht zur Lösung von Problem zu beschwören und von ihm zu erwarten, dass er
um unserer Wünsche willen die Gesetze der Welt ändert. Das Leerwerden, das hier
gemeint ist, ist nichts geringeres als das Leerwerden von religiösen Ideen, Gefühlen,
Hoffnungen und Vertröstungen sowie die Bereitschaft, die Welt in ihrer Gottlosigkeit so
anzuerkennen und zu erkennen, wie sie ist.
Das Leerwerden, von dem in diesem Hymnus die Rede ist, geht jedoch noch einen Schritt
weiter; denn er hält fest, dass Jesus Christus sich selbst erniedrigte und gehorsam wurde
bis zum Tod. Es ist offensichtlich so: Man kann es als gewaltige Erniedrigung empfinden,
dass man den Gesetzen der Welt so radikal unterworfen ist, dass man sogar dem Gesetz
der Vergänglichkeit nicht ausweichen kann. Denn immerhin haben wir in der
Menschheitsgeschichte gegen dieses Gesetz der Welt engagiert wie kaum gegen eine
anderes angekämpft und uns dafür eingesetzt, dass wir – heute mehr denn je – durch
Wissen und Technik von diesem Gesetz unabhängiger werden und in die Lage kommen,
unseren Spielraum, unseren Lebensspielraum zu vergrössern und zu erweitern. Aber das
Älterwerden, und letztlich die eigene Sterblichkeit, können wir trotz allem nicht beseitigen.
Diese Erniedrigung und Kränkung unseres eigenen Stolzes ist uns geblieben. So ärgerlich
dies ist. Von Jesus Christus wird demgegenüber erzählt, dass er sich genau diesem
Gesetz gehorsam unterwarf und nicht aus Gekränktheit dagegen zu rebellieren begann.
Er, der Gottgleiche, hatte sich gehorsam seiner Sterblichkeit unterworfen, er, der
Gottgleiche, hatte sich in einer Weise entleert, dass er auch den Tod als Gesetz der Welt
über sich herrschen lassen konnte. Leerwerden ist hier also ein Geschehen, bei welchem
jeder Widerstand gegen die Gesetze der Welt aufgegeben wird und man sich gehorsam
der unbeugsamen, kalten und anonymen Macht der Schwerkraft preisgibt.
Er entleerte sich selber und wurde gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz.
Dieser Zusatz, ja bis zum Tode am Kreuz, ist die eigentliche Pointe des Hymnus. Mit ihm
wird das Geschichtliche und zugleich Spezielle des Geschehens hervorgehoben. Das
Gesetz der Welt gilt allen Menschen. Aber nicht jeder Mensch stirbt am Kreuz. Wenn
Paulus hier hervorhebt, dass Jesus Christus nicht nur bis zum Tod, sondern bis zum Tod
am Kreuz gehorsam war, will er betonen, dass es um diesen bestimmten, mit seiner
Geschichte einmaligen Menschen geht, der diesen Tod, nämlich den Verbrechertod,
gestorben ist. Er will herausheben, dass der, der gottgleich war, sich so entleerte, dass er
gehorsam seinen Tod als Verbrecher gestorben ist. Den Abgrund, den er hier öffnet, kann
man kaum ermessen; denn was Paulus hier betonen will, ist, dass sich Jesus Christus, der
Gottgleiche, nicht nur den Gesetzen der Welt, sondern auch den Gesetzen des Bösen
unterworfen hat. Die gefallenen Engel, die – anders als der Gottgleiche – die Herrschaft
suchen und als Dämonen und Teufel gegen Gott und den Gottgleichen ankämpfen, haben
diesen zum Verbrecher gemacht und ihn nicht irgendeinen Tod, sondern den Tod des
Verbrechers sterben lassen.
Und genau dagegen hat sich der Gottgleiche nicht aufgelehnt, sondern er hat sich so
entleert, dass er es hat geschehen lassen können. Er hat akzeptiert, zum „Fluch“ zu
werden, um vom „Fluch des Gesetzes“ zu befreien, wie Paulus an anderer Stelle sagt (Gal
3,13); er hat akzeptiert, dass sich das Böse, das nur das Eigene sucht, an ihm ausagiert,
ohne dass er sich dazu verführen lässt, auch das Seine zu suchen und damit auf die Seite
des Bösen zu rutschen; er hat akzeptiert, dass das Verbrechen des Bösen an ihm
geschehen kann, ohne selber böse werden. Es ist dies die Haltung, welche die
Notwendigkeit des vom Bösen verfügten Unglücks gehorsam annimmt und mit der Frage
willkommen heisst, wozu es hier ist. Genauso wie Jesus nach dem Matthäusevangelium
bei seiner Gefangennahme den das Böse verkörpernden Judas mit den Worten begrüsst:
Freund, wozu bist du hier ? (Mat 26,50) Nur der vom Unglück verfolgte, der dessen
Notwendigkeit angenommen hat, kann so fragen. Aber der, der so fragen kann, braucht
auf seine Frage keine Antwort mehr; denn er weiss, dass es sein Leben ist, nicht mehr das
Seine zu suchen, sondern in der Gottesverlassenheit am Kreuz alles Gott zu überlassen.
Dass dies alles andere als einfach ist, zeigt z.B. die Reaktion derer, die bei Jesu
Gefangennahme dabei waren: Das Matthäusevangelium erzählt, dass einer von ihnen
sein Schwert zieht, um gegen die Gegner mit Gewalt anzukämpfen. Aber Jesus hält ihn
zurück. So naheliegend es ist, das Böse mit Gewalt zu bekämpfen, so entschieden will
Jesus, dass man durch den Angriff des Bösen nicht selber böse wird und Böses nicht mit
Bösem vergilt.
Der Mythos, den Paulus erzählt, berichtet in seinem 3. und letzten Teil, dass Gott genau
denjenigen, der seinen Tod am Kreuz so angenommen hat, über die Massen erhöht und
zum Herrn eingesetzt hat, damit sich vor ihm jedes Knie im Himmel, auf Erden und unter
der Erde beuge. Der Gottgleiche, der sich selbst so radikal entleerte, dass er sogar den
Verbrechertod auf sich nahm, genau der wird also die absolute Autorität des Universums,
und zwar die absolute Autorität, die vom Universum freiwillig als solche anerkannt wird.
Die Radikalität des Leerwerdens, die auf jeden Widerstand zugunsten von
Eigeninteressen gegen die Gesetze der Welt, ja sogar die Gesetze des Bösen,
verzichtete, führt zu einer Autorität, die ihre Herrschaft nicht durch Zwang und
Unterwerfung errichtet, sondern zu einer, die aufgrund ihrer Würde freiwillig und nachhaltig
anerkannt wird. Es ist die Autorität dessen, der sich unter den Gesetzen der Welt, unter
den Gesetzen des Bösen, also unter der kalten und anonymen Notwendigkeit der
Schwerkraft, des Unglücks und der Gottlosigkeit so entleert, dass er alles preisgibt und
deshalb eine Würde und Stärke und Souveränität erhält, die sich durch nichts erschüttern
lässt. Was hier also geschieht, ist, dass in der Autorität des Gekreuzigten die Autorität
Gottes offenbart wird. Die Autorität Gottes ist nicht eine unterdrückerische Autorität, die
Widerstand mit Gewalt beseitigt, sondern eine, die ihre Stärke im Leerwerden gewinnt.
Er entleerte sich selber und wurde gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz.
Was sich in diesem Satz ausdrückt, bleibt unheimlich und ungeheuerlich. Da brauchen wir
uns nichts vorzumachen. Und es bleibt dies umso mehr, als Paulus gewiss von Jesus
Christus erzählt, seine Erzählung aber mit den Worten einleitet: Diese Gesinnung heget in
euch, die auch in Christus Jesus war. Ihm geht es offensichtlich nicht nur darum, von
Jesus zu erzählen. Sondern er tut dies, um an seinem Beispiel eine innere Haltung und
Einstellung, eine Klarheit der Intention zum Ausdruck zu bringen, die für das Leben unter
den Gesetzen dieser Welt, ja unter den Gesetzen des Bösen, für alle Menschen Gültigkeit
hat. Das Leerwerden und die Würde, die dieses enthält, ist für ihn nicht nur die
Quintessenz des Evangeliums, sondern der Sinn des Lebens überhaupt. Denn aus
diesem geht, wie er ein paar Verse vorher feststellt, eine Kraft von Liebe, Erbarmen und
Gemeinschaftlichkeit aus, die sich nicht an Kleinigkeiten festbeisst, sondern eine Kultur
der Grosszügigkeit, der Friedfertigkeit und der Gerechtigkeit fördert. Beten wir deshalb zu
Gott, dass wir die Standhaftigkeit erhalten, dem Geist der Kenosis, dem Geist des
Leerwerdens, treu zu bleiben und seinem Willen zu gehorchen. Amen.
Predigt vom 27. November 2005 in Wabern
Bernhard Neuenschwander