Tote Fliegen lassen das Öl des Salbenmischers stinken und gären. Wertvoller als Weisheit und Ehre ist wenig Torheit. Der Weise hat den Verstand zu seiner Rechten, der Tor hat den Verstand zu seiner Linken. Und wenn der Tor unterwegs ist, fehlt es ihm an Verstand. Er aber denkt von jedem: Er ist ein Tor. Koh 10,1-3
Der heutige Bettag ist ein Tag der Besinnung. Hervorgegangen ist er aufgrund der konfessionellen Bürgerkriege, welche die Schweiz im 19. Jahrhundert erschüttert haben. Die konfessionellen Spannungen sind heute zum Glück weitgehend verschwunden, der eidgenössische Dank-, Bet- und Busstag ist indes geblieben. Die Aufforderung zur Besinnung auf das Gemeinsame, alle Menschen Verbindende, kann sich offenbar ein Ablaufdatum nicht leisten, selbst wenn es im Rauschen des Individuellen oft genug an den Rand gedrängt wird.
Das Nachdenken über die Zeit, also über die Zeitlichkeit des Zeitlichen, bringt etwas ins Bewusstsein, das Menschen miteinander verbindet und das sie mit allen Tieren und Pflanzen, ja mit der ganzen Schöpfung teilen: (1.) Alles, was es gibt, geschieht in der Zeit, und (2.) alles, was es gibt, geschieht im Hier und Jetzt. Diese beiden Parameter, die Geschichte und der Moment, sind allem eigen. Sich an ihnen zu orientieren, schafft eine universale Perspektive mit Tiefe. Sie ist für säkulares Denken ebenso zugänglich wie für religiöses. Die verschiedenen Religionen drehen um diesen Angelpunkt. In unzähligen Kreisen interpretieren sie die Geschichte, in ihrem Zentrum bleibt indes die Mystik vom Geheimnis des Moments.
Eine solche Orientierung ist die Grundlage der Weisheit. Weisheit ohne Verständnis für die Zeitlichkeit des Zeitlichen ist nicht Weisheit. Diese Einsicht ist alt und universal. Sie findet sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Wer könnte sich nicht mit der Frage konfrontiert sehen, was sich im Angesicht der Endlichkeit und entsprechend knapper Ressourcen bewährt? Und wer hätte sich der Tatsache entziehen können, dass das Geheimnis der Gegenwart bei jedem Schritt, bei jedem Atemzug, ebenso grundlegend wie unfassbar ist? Die Weisheit muss offensichtlich beides beachten: das, was sich aufgrund der Erfahrung bewährt, aber auch den Moment, der Wunder wirken, aber auch immer einen Strich durch die Rechnung machen kann.
Die alttestamentliche Weisheit hat deshalb zwar betont, dass die Beobachtung des Lebens und der Welt wichtig sei. Sie hat indes auch festgehalten, dass die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit sei (Ps 111,10; Spr 1,7; 9,10; vgl. Hi 28,28; Jes 11,2). Dieser unverfügbare, unberechenbare Aspekt ist mit jedem Augenblick neu gegeben. Wer Weisheit sucht, ist jeden Moment am Anfang. Insofern gibt es keine Weisheit ohne eine gewisse Torheit. Weisheit, welche die Torheit nicht integriert, kann nicht weise sein.
Im Alten Testament ist es Kohelet, der Prediger, der sich darüber Gedanken gemacht hat. Hören wir auf seine Überlegungen!
Tote Fliegen lassen das Öl des Salbenmischers stinken und gären. Wertvoller als Weisheit und Ehre ist wenig Torheit. Für die israelische Weisheit sind Weisheit und Torheit Gegenbegriffe. So ist im Buch der Sprüche etwa von der Frau Weisheit und der Frau Torheit die Rede (Spr 9). Auch Kohelet geht von dieser Gegenüberstellung aus, doch führen ihn seine chronosophischen Überlegungen zu einem integrativen Verständnis von Weisheit und Torheit. Unser Predigttext zeigt dies beispielshaft.
Kohelet macht sich bewusst, dass alles seine Zeit hat: Gebären und Sterben, Zerreissen und Nähen, selbst Krieg und Frieden (Koh 3,1-9). Für alle Ambivalenzen und Widersprüche gibt es eine Zeit. Er fragt deshalb nach dem Gewinn von all der Mühe, die ein Mensch aufwendet. Doch diese Frage führt ihn in eine existentielle Krise. Erlösung findet er erst, als in ihm ein Paradigmenwechsel geschieht und er seine Frage nach dem Gewinn loslassen kann. Als er nämlich den Abgrund seiner Demut durchschreitet und die Mühe um sich selbst und seine Zeitlichkeit von ihm abfällt, realisierte er, dass das nicht-duale Geheimnis der Gegenwart, dass die Schönheit von Gottes Gegenwart, jeden Moment da ist (Koh 3,10-16). Der Mensch ist zwar ebenso sterblich wie das Tier, nichts hat er diesem gegenüber voraus. Doch dank der nicht-dualen Gegenwart Gottes steckt in jedem Augenblick bedingungslose Freude (Koh 3,16-22). Im carpe diem – pflücke den Tag, verstanden als Freude an dieser bedingungslosen Präsenz in allem, was der Alltag beschert, entdeckt er seine Erlösung (Koh 9,7-10).
Damit aber wird für Kohelet klar, dass Weisheit nicht einfach für ein gelingendes Leben sorgt und Torheit zwangsläufig in Schwierigkeit führt. Dieses und jenes hat seine Zeit, selbst wenn die Schönheit Gottes jeden Moment gegenwärtig ist. Auch Güte und Weisheit wollen in der nicht-duale Gegenwart Gottes realisiert sein – mag dies auch für das menschlichen Denken zu scheinbaren Widersprüchen führen. Für Kohelet heisst dies, dass man sich nicht gar zu weise geben soll. Weisheit macht zwar stark, doch niemand ist fehlerlos (Koh 7,15-22). Ein Mensch kann um Weisheit ringen, das Geschehen unter der Sonne vermag er dennoch nicht zu begreifen (Koh 8,16-17). Nicht immer gewinnen die Schnellen den Wettlauf und die Weisen das Brot. Erfolg und Misserfolg haben ihre Zeit, und der Zufall bleibt stets im Spiel. Der Mensch aber kennt seine Zeit nicht (Koh 9,11-12). Weisheit ist zwar besser als Kriegsgerät, doch ein Einziger, der fehlgeht, kann viel Gutes zerstören (Koh 9,18). Der Moment bleibt unberechenbar, die Weisheit, die dies bedenkt, bleibt sich deshalb ihrer eigenen Torheit bewusst.
Unser Predigttext macht dies deutlich. So unbedeutend tote Fliegen sind – sie lassen das Öl des Salbenmischers stinken. Zufälligkeiten können der Weisheit in die Quere kommen und das Gelingen verhindern. Das Wissen um das Geheimnis des Moments, also «wenig Torheit», ist deshalb «wertvoller als Weisheit und Ehre». Es hält die Option, dass es anders kommen kann, als man denkt, im Bewusstsein. Der Weise, der darum weiss, hat das denkende Herz (im hebräischen Text steht לֵב [leb], also Herz; die Zürcher Bibel übersetzt mit «Verstand») in seiner rechten Hand, also auf der tatkräftigen Seite. Der Tor nimmt es in seine linke Hand, und wenn er unterwegs ist, steht es ihm nicht zur Verfügung. Vielmehr hält er den Weisen für einen Toren. Denn die Zufälligkeiten des Augenblicks kann ja auch dieser nicht durchblicken.
In der Fortsetzung hält Kohelet fest, dass die Torheit erstaunlich erfolgreich sein kann. Sie kann in höchste Würden eingesetzt sein. Der Weise, der um die Unberechenbarkeit des Moments weiss und «wenig Torheit» hat, bleibt deshalb gelassen (Koh 10,4-7). Er ist sich bewusst, dass er stets auf der Hut bleiben muss (Koh 10,8-11). Seine Worte werden ihm Gunst bringen. Der Tor mag zwar viel reden, jedoch ermüdet er sich selbst und findet sich nicht zurecht. Denn, so sein Fazit, niemand weiss, was geschehen wird (Koh 10,12-15). Der Weise tut deshalb gut daran, sich dieses Wenige an Torheit zu Herzen zu nehmen.
Tote Fliegen lassen das Öl des Salbenmischers stinken und gären. Wertvoller als Weisheit und Ehre ist wenig Torheit. Heute ist Bettag, heute sind wir aufgefordert, über die Weisheit nachzudenken, über die Torheit in der Weisheit und über die Grenzen der Weisheit.
Zunächst dieses: Trotz all ihrer Begrenztheit – um Weisheit ringen, bewährt sich. Auch Kohelet hält an dieser Überzeugung fest, und wir tun gut daran, diese Einsicht nicht zu vergessen. Orientieren wir uns an der Weisheit, beobachten wir, was sich ganz konkret im Leben bewährt, wir reflektieren unsere Beobachtungen, und wir handeln entsprechend. Wir stehen also selbstverantwortlich zu unserer Wahrnehmung und unserem Tun. Auf dieser Grundlage folgen wir nicht unreflektiert unseren Gewohnheiten und Traditionen, sondern adaptieren diese kritisch für unser Leben. Umgekehrt halten wir uns aber auch nicht einfach an herzlose Rationalität, sondern suchen eine integrative Wahrnehmung unserer Welt, eine ganzheitliche Reflexion und ein Tun, das in seinen Kontexten stimmt. Die Weisheit ist weder eine Mitläuferin von Vorbildern, Populisten und Autoritäten, noch eine zickige Dame, die ihren Sonderstatus zelebriert. Sie bleibt nüchtern und vernünftig, aber sie hat ein offenes Herz und einen Sinn dafür, was an der Zeit ist.
Dieser chronosophische Sinn führt die Weisheit in den Abgrund der Demut. Kohelet hat dies am eigenen Leib erfahren, und es kommt niemand um diese Grenzerfahrung herum, der sich ernsthaft auf die Weisheit einlässt. Die menschlichen Ressourcen sind aufgrund der Zeitlichkeit des Zeitlichen stets knapp und bestimmen die Bedingtheit des Daseins. Wir können uns mit dieser vertraut machen, wir können versuchen, sie zu ergründen, und wir können darum ringen, uns mit ihr zu synchronisieren – wirklich verstehen können wir sie nicht. Sie gründet im Geheimnis der Gegenwart, das mitten in allen Widersprüchen und Ambivalenzen des Daseins unmittelbar, nicht-dual gegenwärtig ist, das wir deshalb mit der Chiffre von der Gegenwart Gottes markieren, das aber ebenso offensichtlich wie geheimnisvoll bleibt. Wir wissen um das Geheimnis des Moments, und wir leben es ständig. Wir erhaschen einen Blick von ihm, und wir übermalen es gleich wieder mit unseren Bildern. Der Moment ist unser blinder Fleck, den wir ob seiner unmittelbaren Präsenz übersehen. Sich darauf einzulassen, löst unsere Identität auf. Wir merken, dass unser Ich keine zeitlose Entität ist, sondern ein zeitliches Konstrukt. Was wir sind, sind wir einzig und allein dank dem Geheimnis der Gegenwart, oder traditionell formuliert: dank der Gnade Gottes. Sie ist die Grundlage von Güte und Weisheit, sie zu erfassen, bleibt für uns aufgrund unserer Zeitlichkeit aber stets Stückwerk.
Deshalb gehört etwas Torheit integrativ zur Weisheit. Sie steht für das Geheimnis der Gegenwart, das wir trotz aller Liebe nur ansatzweise erfassen (vgl. 1Kor 13,9-12). Kohelet hat ja durchaus recht mit seiner Beobachtung, dass die Weisheit nicht immer erfolgreich und die Torheit zuweilen bemerkenswert erfolgreich ist. Unerlöste Geschichten der Vergangenheit können die Gegenwart einfärben, Sorgen und Ängste gegenüber der Zukunft können das Hier und Jetzt bestimmen, und statt der Fülle der Gegenwart Gottes kann den Moment auf einmal der Mangel an Erlösung prägen. Das Ergebnis ist bekannt. Der verrückte russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist nur ein Beispiel. Für die Verstrickung in die eigene Geschichte gibt es unzählige. Wir tun, was wir für gut halten, doch darin ist nur so viel Gutheit enthalten, als wir von der Güte und Weisheit Gottes zulassen können. Das kann erschreckend wenig und furchtbar zerstörerisch sein. Die alte israelitische Weisheit hat deshalb von der Furcht des Herrn gesprochen, die sich bewusst ist, dass Gottes Güte und Weisheit immer im Spiel ist, zuweilen indes so mangelhaft, dass das Ergebnis teuflisch wird. Kohelet spricht nicht von der Furcht des Herrn. Er hält sich stattdessen daran, dass Gott mit seiner Schönheit den Augenblick verzaubert, aber dass dies in Momenten, in welchen die Torheit dominiert, nur schwer zu erkennen ist. Was so oder so bleibt, ist das Wissen um die bedingungslose Gegenwart der Güte und Weisheit Gottes, aber auch das Wissen, dass wir dieser im Weg stehen und dass deshalb Furchtbares und Törichtes erfolgreich sein können.
Der heutige Bettag ist eine wunderbare Gelegenheit, uns auf die Gegenwart Gottes und deren Güte und Weisheit zu besinnen, dabei aber ebenso die seltsame Eigenheit des Menschen zu bedenken, das Geheimnis dieser Gegenwart mit sich selbst zu blockieren und zu verhindern. Beten wir also, dass wir unsere Endlichkeit bedenken, auf dass wir klug werden (vgl. Ps 90,12). Amen.
Predigt vom 18. September 2022 in Wabern
Bernhard Neuenschwander