Es gab nun in Antiochia in der dortigen Gemeinde Propheten und Lehrer: Barnabas, Simeon, der auch ‚der Schwarze‘ genannt wurde, Lucius, der Kyrener, Manaen, ein Jugendgefährte des Tetrarchen Herodes, und Saulus. Als sie Gottesdienst feierten und fasteten, sprach der heilige Geist: Bestimmt mir den Barnabas und den Saulus für das Werk, zu dem ich sie berufen habe. Da fasteten und beteten sie, legten ihnen die Hände auf und liessen sie gehen. Apg 13,1-3
In der Gnade Gottes zeigt sich, was die Aufgabe ist, die im Leben eines Menschen erfüllt sein will. Ich kann viele Interessen haben, und ich kann mich für manche Themen engagieren. Doch in all dem, was mich umtreibt, steckt etwas, das in meinem Leben zur Entfaltung kommen will und es zu einem erfüllten Leben macht. Was das ist, liegt nicht in meiner Hand. Es zeigt sich, wenn ich mich lasse, wenn mein Wille mit dem Willen Gottes synchronisiert ist, wenn ich realisiere, was bedingungslos, aus Gnade, in mir werden will. Die christliche Tradition nennt dies Berufung bzw. in der konkreten Umsetzung Beauftragung. Sie unterstellt, dass alle Menschen von Gott auf je ihre Weise berufen sind und dass es ein Segen ist, wenn diese gelebt wird.
In dieser postchristlichen Zeit ist die Vorstellung einer solchen Berufung fremd und schwer verständlich geworden. Menschen in den heutigen, westlichen Kulturen wollen ihr Leben selbstbestimmt leben. Sie wollen selbst entscheiden, was sie tun und lassen, und sie wollen ihre Entscheidungen jederzeit revidieren und anpassen können. Was für sie in einer Lebensphase stimmt, muss nicht für eine andere richtig sein. Bindungen an Menschen, Aufgaben, Orte und Gegenstände sind deshalb einengend und störend. Sie schränken die Flexibilität ein und stehen einer optimalen Deckung eigener Bedürfnisse im Wege. Dieser Drive zur Selbstoptimierung zwingt indes zu ruhelosem Aktivismus. Wer sich in suboptimalen Umständen befindet und mit seinem Leben unzufrieden ist, ist selbst schuld. Zur Verantwortung für ein selbstbestimmtes Leben gehört, entweder Ja zu seinem Leben zu sagen oder für die nötigen Veränderungen zu sorgen. Entsprechend muss die eigene Selbstwirksamkeit konstant verbessert und potenzieller Kontrollverlust, etwa durch Krankheit, Alter oder Tod, übersteuert und verdrängt werden. In einem solchen, von narzisstischen Strukturen geprägten Lebensentwurf ist eine göttliche Berufung nicht vorgesehen. Sie erinnert an vergangene Zeiten, die kaum noch zugänglich scheinen.
Allerdings handelt es sich hier keineswegs bloss um ein Phänomen postchristlicher Zeit. Die Berufung des Moses zeigt es exemplarisch, aber auch die Berufungen der Propheten und der Apostel machen es deutlich. Sich zu lassen, in der Demut die Gnade zu finden und so die eigene Berufung zu entdecken und zu leben, ist ein anspruchsvoller Prozess. Ihr kann eine Zeit der Vorbereitung vorausgehen, sicher aber folgt ihr eine Zeit der Verarbeitung. Zudem ist eine Berufung nicht Selbstzweck. Ist der Moment gekommen und die Integration der Berufung in das eigene Leben genügend fortgeschritten, will sie durch eine Beauftragung umgesetzt werden und in konkreten Taten zum Ausdruck kommen. Die christliche Tradition nennt diese Beauftragung «missio», «Sendung». Durch die Sendung wird die Berufung konkrete Tat. Unser Predigttext erzählt von einer solchen Sendung.
Ort des Geschehens ist Antiochia. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte haben Barnabas und Saulus die Kollekte der Gemeinde Antiochias der an Hunger leidenden Gemeinde in Jerusalem überbracht (Apg 11,30). Sie sind Zeugen einer weiteren Verfolgung der dortigen christlichen Gemeinde geworden (Apg 12, 1-17), haben den Tod des römischen Königs Herodes Agrippa I mitbekommen (Apg 12,20-23) und sind nun zusammen mit Johannes Markus nach Antiochia zurückgekehrt (Apg 12,24f). Erzählt wird im Folgenden, wie es kommt, dass sie auf ihre erste grosse Mission geschickt werden (Apg 13-14).
Dass sie es sind, die ausgeschickt werden, steht nicht zum Vorneherein fest (V1). Es gibt in der unterdessen stattlichen christlichen Gemeinde Antiochias (Apg 11,26) eine Reihe von Propheten und Lehrer, die für diese Aufgabe in Frage kommen. Erwähnt wird eine Liste von fünf Persönlichkeiten. Dabei wird nicht zwischen Propheten und Lehrern unterschieden. Die Grenze ist offenbar fliessend.
An erster Stelle wird Barnabas genannt. Von Barnabas wird in der Apostelgeschichte keine klassische Berufungsgeschichte erzählt, wohl aber eine beeindruckende diakonische Tat: Er verkauft den Acker, den er besitzt, und übergibt das Geld den Aposteln (Apg 4,36). Er macht auf diese Weise deutlich, dass er sich nicht an verfügbarem Gut festhält, stattdessen auf die Gnade Gottes setzt (vgl. Apg 11,23) und sich in Dienst der christlichen Gemeinde stellt. Er wirkt zunächst in Jerusalem (Apg 4,36; 9,27), wird dann aber als Delegat der Gemeinde Jerusalems nach Antiochia geschickt und als guter Mann, der wie Stephanus (Apg 6,5) erfüllt ist von heiligem Geist und Glauben, beschrieben (Apg 11,24). Er holt Saulus von Tarsus nach Antiochia, und gemeinsam bauen sie die dortige christliche Gemeinde auf (Apg 11,25f).
Nach Barnabas folgt auf der Liste möglicher Kandidaten Simeon. Er trägt einen jüdischen Namen, wird aber zudem «der Schwarze» genannt. Er könnte jüdischer Abstammung sein und einen Migrationshintergrund haben. Sodann wird Lucius aufgeführt, der wohl zu den Diasporajuden der Zyrenaika gehört, welche in Antiochia auch nichtjüdische Menschen für den christlichen Glauben zu gewinnen suchten (Apg 11,20). Weiter steht Manaën auf der Liste. Von ihm wird gesagt, dass er ein Jugendgefährte des Herodes Antipas ist, also des Landesfürsten Jesu (vgl. Lk 3,1; Apg 4,27). Offenbar ist er am Hof Herodes des Grossen als Sohn einer vornehmen Familie im Kreis des Prinzen aufgewachsen. Schliesslich wird, ganz am Schluss der Liste, auch noch Saulus als möglicher Kandidat aufgeführt. Seine Geschichte als Verfolger der Gemeinde (Apg 8,3; 9,1f), seine plötzliche Erleuchtung und Berufung vor Damaskus (Apg 9,3-9) und deren Verarbeitung (Apg 9,10ff.30; Gal 1,17f) werden als bekannt vorausgesetzt.
Erzählt wird nun die Wahl der Kandidaten (V2). Sie geschieht im Rahmen eines Gottesdienstes und ist begleitet von Fasten. Getragen vom gottesdienstlichen Ritual sollen die Anwesenden von sich selbst geläutert in der Gnade Gottes gegenwärtig sein. In dieser Situation spricht der heilige Geist: Bestimmt mir den Barnabas und den Saulus für das Werk, zu dem ich sie berufen habe. Begründung für diese Entscheidung wird keine gegeben, und Zweifel werden nicht geäussert. In der Gegenwart Gottes ist die Sache für alle klar: Barnabas und Saulus sind längstens von Gott zu dieser Mission berufen. Sie sind es, die die Gnade Gottes nicht nur Juden, sondern allen Menschen nahebringen sollen (Apg 13,43; 14,26; 20,24). Nun ist der Moment gekommen, dass sie dazu von der Gemeinde Antiochias beauftragt werden sollen. Diese zunächst lokale Entscheidung wird nach der Apostelgeschichte später im Konzil der Apostel in Jerusalem als Entscheidung der verschiedenen christlichen Gemeinden und deren Repräsentanten bestätigt (Apg 15,1-35). Vorerst aber ist es die Gemeinde Antiochias, die in der Gegenwart des heiligen Geistes zur Tat schreitet (V3). Die Menschen der Gemeinde fasten und beten, legen Barnabas und Saulus die Hände auf und lassen sie auf ihre Mission gehen. Was der Wille der beiden ist, kommt gar nicht erst in Blick. Unterstellt wird, dass sie bereit sind, beauftragt zu werden und ihre Berufung in die Tat umzusetzen. Doch festgehalten wird, dass es die Gemeinde ist, die dies in der Gegenwart Gottes überprüft und den Impuls zum Start gibt. Die Fortsetzung erzählt dann, wie Barnabas und Saulus ausgesendet vom heiligen Geist ihre erste grosse Mission antreten (Apg 13,4-14,28).
Das heutige Nachdenken über diesen Predigttext gibt uns die Gelegenheit, über den Aufbruch zu einer Mission nachzudenken: über Berufung und Beauftragung jener Menschen, die die Mission tragen und ausführen sollen. Diese Kategorien mögen für uns heute keine Selbstverständlichkeit mehr sein. Doch sie verweisen auf etwas, das für das Gelingen einer grossen Aufgabe auch heute bedeutsam ist.
Halten wir zunächst fest: Der Aufbruch zu einer Mission hat seinen Grund in einer Berufung. Eine Berufung ist ein nichtmachbares, bedingungsloses Ereignis. Es mag persönliche Faktoren geben, die für eine Berufung sprechen, Kontexte, die sie unterstützen, also Wahrscheinlichkeitsfelder, die sie möglich machen. Doch eine Berufung unterläuft die Mechanik von Ursache und Wirkung. Sie ereignet sich unter konkreten Bedingungen, aber geschieht einzig und allein aus sich selbst, unbedingt, zufällig – christliche gesprochen: aus purer Gnade. Entsprechend unterschiedlich manifestiert sie sich. Bei Barnabas zeigt sie sich indirekt in einer Handlung, in welcher er seinen Besitz hingibt und restlos auf die Gnade Gottes setzt. Saulus wird plötzlich von einem Licht vom Himmel umstrahlt und hört eine Stimme. Eine Berufung ist unzeitgemäss, aber situationsadäquat. Sie überwältigt, zerbricht Sicherheiten und konfrontiert mit der Gebrochenheit von Werden und Vergehen. Zugleich aber verbindet sie mit dem Geheimnis des Universums, offenbart dessen Information der Liebe und Weisheit und zeigt hier und jetzt den Weg. Eine Berufung ist jederzeit möglich – heute ebenso, wie gestern und morgen.
Eine Berufung steht am Anfang einer Mission, aber ist für die konkrete Umsetzung nicht ausreichend. Sie bildet den persönlichen Aspekt dessen, der die Mission ausführen soll, doch wird die Gnade, in welcher sie geschehen soll, in der Gebrochenheit der Gemeinschaft inkarniert, für die sie bestimmt ist. Damit dies passiert, bedarf es der Beauftragung durch die Gemeinschaft. Vom Berufenen verlangt das, dass er die Demut aufbringt, die Gnade im Hier und Jetzt dieser Gebrochenheit anzuerkennen. In Antiochia werden fünf Kandidaten vorselektioniert. Alle dürften grundsätzlich die nötigen Qualifikationen mitgebracht haben. Ausgewählt werden schliesslich aber nur der erste und der letzte auf der Liste. Eine Berufung macht mit der bedingungslosen Gegenwart Gottes vertraut und zeigt die Richtung, in welcher sie vom Berufenen zu leben ist. Doch die Beauftragung, also die Definition der Rahmenbedingungen für die Mission, wird durch die Gemeinschaft vollzogen, in deren Dienst er sich stellt. Eine Berufung verdankt sich dem Geheimnis der Gegenwart Gottes. Indem sie sich aber inkarniert, bedarf sie der Beauftragung und ist bestimmt von der Gebrochenheit der sozialen Realität, wie sie im jeweiligen Hier und Jetzt zufälligerweise besteht. Nur wenn Berufung und Beauftragung zusammenfinden, kommt die Mission zustande.
Damit die Berufung eines Menschen im Rahmen der Gemeinschaft, in welcher sie zur Entfaltung kommen soll, geklärt werden kann, braucht es einen offenen, gemeinsamen Prozess. In diesem Prozess kristallisiert sich, wer für welchen Aufgabe beauftragt werden soll. Ist der heilige Geist leitend, geschieht die Klärung vorurteilsfrei und unbefangen, ohne Ansehen der Person (vgl. Apg 10,34). Deshalb findet dieser Prozess in der Gemeinde Antiochias im Rahmen eines Gottesdienstes statt. Die Gemeinde fastet, betet, hört auf den heiligen Geist und tut, was sich darin zeigt. Orientieren sich Berufener und Gemeinschaft bedingungslos an der Information des Hier und Jetzt, teilen sie einen Moment der Gnade. In diesem Moment sind sie miteinander verbunden und erkennen gemeinsam die Lösung, die für den Einzelnen und die Gemeinschaft stimmt. Ist die Beauftragung so zustande gekommen, wird sie von allen Beteiligten getragen. Sobald dies eingetreten ist, kann die Mission starten.
Ist ein solcher Anfang einer Mission mehr als ein frommer Wunsch? Oder ist er genau das, was eine postchristliche Zeit braucht, wenn sie Rekrutierungsprozesse nicht bloss an säkulare Consultingfirmen delegieren will? Heute werden Menschen durch überprüfbare Assessments und psychologisch aufbereitete Prozesse rekrutiert. Berufung und Beauftragung ersetzen diese nicht. Aber sie verweisen auf eine Tiefendimension, welche die Erfüllung einer Mission für den Menschen, der sich auf sie einlässt, sinnerfüllt und für den beauftragten Menschen sowie für die beauftragenden Gemeinschaft segensreich macht. Beten wird deshalb, dass wir die Gnade, die in uns Menschen gegenwärtig ist, erkennen und dass wir uns gemeinsam darin unterstützen, sie zu leben. Amen.
Predigt vom 4. August 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander