Jene nun, die im Zuge der Verfolgung des Stephanus versprengt worden waren, gelangten bis nach Phönizien, Zypern und Antiochia; und sie verkündigten das Wort niemandem ausser den Juden. Es waren aber unter ihnen auch einige Männer aus Zypern und Kyrene; die sprachen, als sie nach Antiochia gekommen waren, auch Griechen an und verkündigten ihnen die gute Botschaft, dass Jesus der Herr sei. Und die Hand des Herrn war mit ihnen; viele kamen zum Glauben und wandten sich dem Herrn zu. Apg 11,19-21
Karfreitag ist der Abgrund der Demut. In diesem Abgrund leuchtet kein Licht und klingt kein Wort. Die Welt ist vergangen, die Konstruktionen des Lebens tragen nicht mehr, was gut und schön war, ist verflüchtigt. Im Abgrund der Demut zeigt sich, dass das Ich, mit dem ich mein Leben lebe, keine Beständigkeit hat, dass auch es eine vergängliche Konstruktion ist, dass es – wie die Mystikerin Margareta Porete sagt – «weniger denn nichts» ist.[1] Der Abgrund der Demut konfrontiert mit Abschied und Kontrollverlust, mit Loslassen und Hingabe – einer Realität dieses Daseins. Ob ich will oder nicht: Ich habe den Tod ständig in mir. Jeden Moment gehe ich auf fragilem Boden, jeden Moment kann plötzlich alles ganz anders sein.
Jahr für Jahr erinnert Karfreitag an den Abgrund der Demut, und Jahr für Jahr ermutigt er dazu, eine Schicht tiefer in diesen Abgrund hinunterzusteigen. Nicht um zu quälen, nicht um Leiden zu verursachen, sondern um zu läutern, von Illusionen zu reinigen und Klarheit zu schaffen. Karfreitag ist der Moment der Katharsis, der Moment des Loslassens vom Dies und Das, der Moment der Befreiung von sich selbst.
Karfreitag kann man aus dem Bewusstsein verdrängen und mit Aktivismus übersteuern, doch aus dem Weg räumen und beseitigen kann man ihn nicht. Die moderne Leistungsgesellschaft ist darauf ausgerichtet, Schwierigkeiten und Probleme als Herausforderungen zu interpretieren. Man soll sich ihnen stellen, um sie zu bewältigen. Wunderbar, wo ihr der Erfolg Recht gibt! Umso schwerer tut sie sich indes mit all dem, was sich ihrem Leistungsanspruch entzieht. Das christliche Kreuz repräsentiert zeichenhaft und unverrückbar genau dies. Denn Karfreitag verdichtet all das, was sich im Leben nicht lösen lässt: Geschichten, die zu keinem guten Ende gekommen sind und keine Vergebung finden; Schicksalsschläge, die mit Leid und Schmerz konfrontieren und zu keiner Heilung gelangen; Konflikte und Kriege, die Völker für Jahrzehnte traumatisieren und jede Hoffnung auf Versöhnung in weite Ferne rücken; Verletzungen, die nicht heilen und das erlebte Unrecht nicht vergessen lassen. Karfreitag ist der Stachel einer erfolgsverwöhnten Gesellschaft, die Konfrontation mit den Abgründen ihres Daseins, das Zeichen einer Realität, die sie nicht beseitigen kann und die sie früher oder später einholt.
Sich genau dieser Tatsache zu stellen, ist die Stärke des christlichen Glaubens. Das Kreuz ist sein Zeichen. Es fordert dazu auf, den Glauben durch Karfreitag zu läutern, ihn im Abgrund der Demut zu reinigen, hinzugeben, sterben zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er zu neuer Kraft kommt. Die Osterbotschaft von der Auferstehung, von Heilung, Befreiung, Erlösung, Vergebung soll genau dies illustrieren. Der Ansatz bleibt jedoch der Abgrund der Demut, dieser existentielle Moment, der sich auf keinerlei Weise lösen und beseitigen lässt und der untrennbar zum Leben auf dieser Welt gehört. Karfreitag berichtet zeichenhaft von diesem Moment, und unzählige Variationen von Karfreitag erzählen auf ihre Weise davon. Sich mit ihm vertraut zu machen, sich ihm hinzugeben, ist das Geheimnis jener Stärke, die dem christlichen Glauben eigen ist, das Geheimnis seiner frohen Botschaft, das Geheimnis seiner universalen, kosmologischen Information.
Unser Predigttext illustriert dies auf seine Weise. Allerdings richtet er den Blick weniger auf den Abstieg in den Abgrund von Karfreitag als vielmehr auf dessen Folgen. Das entspricht lukanischer Theologie. Lukas ist ein Theologe, der das halbvolle Glas sieht. Es sind im Neuen Testament vor allem Paulus und Markus, welche das Kreuz ins Zentrum ihres Glaubens stellen. Paulus kritisiert ebenso Juden wie Griechen und macht klar, dass er Christus den Gekreuzigten verkündet – für die Juden ein Ärgernis, für die Heiden eine Torheit (1Kor 1,23). Und Markus beendet sein Evangelium mit der Geschichte vom leeren Grab (Mk 16,5-8). In den wichtigsten Handschriften dieses Evangeliums steht keine Auferstehungsgeschichte (vgl. Mk 16,9-20). Lukas ist mit Paulus und Markus bestens vertraut. Paulus ist die Hauptfigur im zweiten Teil seiner Apostelgeschichte, und das Markusevangelium hat er als Quelle seines Evangeliums benutzt. Er setzt deren Kreuzestheologie voraus, und er weiss genau, dass Christus derjenige ist, der ans Holz gehängt wurde (Apg 5,30; 10,39). Daran macht er keine Abstriche. Doch ihm liegt am Herzen, das erneuernde Potential ins Zentrum zu rücken, das darin steckt. Denn da zeigt sich die Stärke des Abstiegs in den Abgrund der Demut, da zeigt sich die Stärke Gottes.
Die Voraussetzung für unseren Predigttext bildet eine längere Geschichte, in welcher exemplarisch erzählt wird, dass der neue Glaube an Jesus Christus jede Exklusivität einer Gemeinschaft, in diesem Fall der Juden, überschreitet und stattdessen universal und in kosmologischen Dimensionen zu verstehen ist. Karfreitag ist der Wendepunkt, der dazu führt. Petrus reflektiert dies in dieser Geschichte: denjenigen, den sie, er meint die Juden, ans Holz gehängt und getötet haben, hat Gott auferweckt und zum Richter über Lebende und Tote bestellt (Apg 10,39-43). Christus ist der Herr jenseits jeder Dualität von Rein und Unrein (vgl. Apg 10,9-16), er ist der Herr über alle (vgl. Apg 10,36). Dieser kosmische Christus steht gleichnishaft für die Information, durch die Gott in diesem Universum waltet. In ihm manifestiert sich die Stärke, die im Abgrund der Demut steckt und für die das Kreuz das Zeichen ist.
Diese Stärke deutet sich in unserem Predigttext vorsichtig an. Er erzählt zunächst von den Fluchtbewegungen, die im Zuge der Verfolgung des Stephanus (vgl. Apg 8,1-4) geschehen sind (V19). Die Flüchtenden durchqueren Phönizien, also den langen Küstenstreifen des mittleren Syriens vom Karmel im Süden bis zum Fluss Eleutheros im Norden. Sie gelangen zur Insel Zypern und kommen bis nach Antiochia, also jener Grossstadt im Norden Syriens, welche nach Rom und Alexandria die bedeutendste Stadt der damaligen Welt ist. Betont wird, dass sie das Wort vom neuen Glauben vorerst niemandem ausser Juden verkünden. Doch dann zeigt sich die Öffnung (V20). Unter den Flüchtenden sind nämlich auch einige Männer aus Zypern und Kyrene, und die sprechen, als sie nach Antiochia kommen, auch Griechen an und verkünden ihnen die gute Botschaft, dass Jesus der Herr sei. Das Scheitern Jesu, das in den Abgrund der Demut führt und in seiner Kreuzigung endet, beginnt hier also damit, jene Stärke zu zeigen, die in ihm steckt. Es macht deutlich, dass das Gesetz, das bisher für Zugehörigkeit, Identität, Orientierung, Tun und Lassen den Massstab setzte, gar nicht entscheidend ist, dass die Information Gottes stattdessen unabhängig davon jeden Moment gegenwärtig und wirksam ist. Paulus formuliert dies auf seine Weise, indem er erklärt, dass Christus Ziel und Ende (τέλος) des Gesetzes ist, zur Gerechtigkeit für alle, die glauben (Röm 10,4). Lukas hält abschliessend fest, dass das, was hier geschieht, erfolgreich ist (V21). Die Hand Gottes liegt darauf, viele kommen zum Glauben und wenden sich dem Herrn, also dem kosmischen Christus, zu. Der Erfolg mag vorerst bescheiden und unscheinbar scheinen, doch er verdankt sich jenem Wendepunkt, der in der Tiefe von Karfreitag steckt, und der dazu führt, dass schliesslich aufgedeckt wird, was bis an die Enden der Erde, ja des Universums, gilt (vgl. Apg 1,8; Mk 4,30-32; Joh 12,24).
Denken wir heute, an Karfreitag, über diese biblische Geschichte nach, werden wir damit konfrontiert, uns Rechenschaft darüber zu geben, was Karfreitag für uns eigentlich noch bedeutet. In unserer postchristlichen Zeit erodiert der Bezug zum christlichen Festkalender. Vielleicht feiern wir Weihnachten, doch wie halten wir es heute mit Karfreitag?
Zunächst dies: Unsere postchristliche Zeit bietet die Chance, Karfreitag neu zu verstehen. Es gibt sie ja eben auch heute, all diese Themen, die nicht lösbar sind, die mit den Abgründen des Leids konfrontieren und die dafür sorgen, dass nichts mehr ist wie früher. Solche Themen sind schwer zu ertragen, sie bringen Einsamkeit und hinterlassen Narben. Die Geschichte von Karfreitag bietet für solche Themen einen hermeneutischen Rahmen, der sich bewährt hat und Menschen über Jahrhunderte und überall auf dieser Welt miteinander verbindet. Heute ist klar, dass dieser Rahmen zufällig, relativ und weder exklusiv noch notwendig ist. Niemand muss sich auf Karfreitag beziehen, niemand muss sein Leben im Horizont biblischer Erzählungen deuten. Unsere postchristliche Zeit hat den christlichen Glauben von seinem Ballast befreit und jene Freiheit sichtbar gemacht, die ihm eigen ist. Heute können wir uns ohne Angst vor kirchlichen Autoritäten, Sanktionen oder gar Höllenstrafen auf die Geschichte von Karfreitag einlassen, und wir können sie so lesen, wie sie gemeint ist: als hilfreiches Angebot, um die Konfrontation mit Leiden zu interpretieren, es in einem grösseren Kontext zu reflektieren, mit anderen Menschen zu teilen und bearbeitbar zu machen. Heute liegt die Entscheidung ganz bei uns selbst, ob wir auf dieses Angebot einsteigen oder nicht.
Geblieben ist allerdings, dass Karfreitag eine höchst persönliche Konfrontation ist. Das war sie in vergangen Zeiten, das ist heute nicht anders. Karfreitag wurde zwar für grosse Menschenmassen dramatisch inszeniert und in Prozessionen, ritualisierten Kreuzwegen, Schauspielen erlebbar gemacht. Malerei, Musik, Tanz haben Karfreitag auf ihre Weise bearbeitet und Menschen nahegebracht. Dennoch ist Karfreitag ein persönlicher Moment der Konfrontation geblieben. Die Grundgeschichte von der Kreuzigung Jesu illustriert es, doch all die Karfreitage, die Menschen in ihrem Leben erleiden, konfrontieren ständig neu mit seiner Abgründigkeit. Auf Karfreitag kann man sich nicht vorbereiten. Karfreitag ist ein singuläres Ereignis, ganz individuell, zufällig und spezifisch – jedes Mal anders, jedes Mal auf seine eigene Weise einmalig. Karfreitag konfrontiert stets mit der eigenen Vergänglichkeit, der eigenen Bedeutungslosigkeit, der eigenen Nichtigkeit. Deshalb führt Karfreitag in den Abgrund der Demut. Sich darauf einzulassen, bleibt eine Herausforderung. Doch der christliche Glauben fordert genau dazu auf. «Wenn einer mir auf meinem Weg folgen will, verleugne er sich und nehme sein Kreuz auf sich», heisst es bei Markus (Mk 8,34). Lukas fügt in diese Vorlage noch «Tag für Tag» ein (Lk 9,23) und macht so aus dem Kreuzweg einen täglichen Übungsweg. Dennoch bleibt Karfreitag ein singulärer Moment: der Moment, in welchem ich alles lasse, was ich habe oder weiss, fühle oder will, ja alles, was ich bin, der Moment, in welchem an meiner Stelle nur noch Gott gegenwärtig ist. Deshalb ist Karfreitag der Wendepunkt, deshalb ist Karfreitag der Moment, in welchem – um mit Paulus zu reden – nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir lebt (Gal 2,20), also der Moment, in welchem ich mir in Gott gestorben bin.
Wird Karfreitag auf diese Weise zur Realität, haben all die unlösbaren Themen, die zu diesem Leben gehören, ihren Platz gefunden. Lass ich mich auf Karfreitag ein und steige in den Abgrund der Demut, verliere ich mit mir selbst ebenso all das, was an mir haftet, mich belastet und mich schmerzt. Meine Verstrickung in das Unlösbare vergeht, meine Angst, mein Schmerz fliessen ab, mein Ballast ist nicht mehr da, und an seiner Stelle wird jene bedingungslose Freiheit gegenwärtig, die nicht von dieser Welt ist und die nur im Geheimnis der Gegenwart geschieht. Dieser Wendepunkt lässt sich mit Worten andeuten, aber nicht begreifen. Die Tradition der christlichen Mystik beschreibt ihn als mors mystica, als mystischen Tod. Sie verweist mit dieser Metaphorik auf jene Schwelle zwischen Leben und Tod, auf der auf einmal völlig klar wird, dass das Ich samt seiner Bubble eine vergängliche Konstruktion ist. Es gibt nichts, an dem ich mich festhalten kann, und ich brauche auch nichts, an dem ich mich festhalten kann. Ist Gott mit seiner Information an meiner Stelle gegenwärtig, genügt dies. Denn diese Information eröffnet eine Weite, die mit diesem Universum immer grösser wird, die Vergangenheit und Zukunft verbindet und die dennoch jeden Moment gegenwärtig ist. Der kosmische Christus ist das christliche Bild, das sie gleichnishaft andeutet. Doch es steht für die Information des Hier und Jetzt, durch die diese Welt geschieht. In dieser Information sind alle unlösbaren Themen integriert und vergangen, in dieser Information ist der Abgrund von Karfreitag zugleich der Beginn von Ostern.
Das Potential von Karfreitag ist auch heute keineswegs ausgeschöpft. Unsere postchristliche Zeit hat die Chance, ihm auf neue Weise auf die Spur zu kommen. Doch dazu müssen wir den Mut aufbringen, in den Abgrund der Demut zu steigen, uns zu lassen und jene Freiheit zu leben, die nur in der Gegenwart Gottes geschieht. Beten wir also, dass wir diesen Mut aufbringen und Gott in uns wirksam wird. Amen.
[1] Porete, Margareta (2010): Der Spiegel der einfachen Seelen. Mystik der Freiheit. Kevelaer: Verlagsgemeinschaft topos plus: 84. Die Formulierung steht in einem Zusammenhang, in welchem Margarete Porete ausdrücklich den «Abgrund der Demut» thematisiert (83f).
Predigt vom 29. März 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander