Würfelt Gott?

Würfelt Gott?

Ausgesandt vom heiligen Geist, zogen sie nach Seleukia hinunter, von dort setzten sie über nach Zypern. In Salamis angekommen, verkündigten sie in den Synagogen der Juden das Wort Gottes; zu ihrer Unterstützung hatten sie Johannes bei sich. Nachdem sie die ganze Insel bis Paphos durchzogen hatten, trafen sie auf einen Magier, einen jüdischen Pseudopropheten mit Namen Barjesus. Er gehörte zum Gefolge des Prokonsuls Sergius Paulus, eines verständigen Mannes. Dieser liess Barnabas und Saulus rufen und wünschte, das Wort Gottes zu hören. Doch Elymas, der Magier – so lautet sein Name auf Griechisch – trat ihnen entgegen und versuchte, den Prokonsul vom Glauben abzuhalten. Saulus aber, der auch Paulus heisst, erfüllt von heiligem Geist, fasste ihn ins Auge und sprach: Du, der du voller List und Tücke bist, du Sohn des Teufels, du Feind aller Gerechtigkeit, willst du nicht aufhören, die geraden Wege des Herrn zu verdrehen? Pass auf, jetzt kommt die Hand des Herrn über dich, und du wirst blind werden und für eine gewisse Zeit die Sonne nicht mehr sehen. Und auf der Stelle fiel Dunkelheit und Finsternis über ihn, und er tastete umher und suchte Leute, die ihn führen würden. Als der Prokonsul sah, was da geschehen war, kam er zum Glauben, überwältigt von der Lehre des Herrn. Apg 13,4-12 

Die Gegenwart Gottes ist die Kraft bedingungsloser Präsenz. Sie ist nichtduale Unmittelbarkeit, frei von Wertungen, jenseits von Gut und Böse. In dieser Gegenwart öffnet sich ein Wahrscheinlichkeitsfeld. Jeden Moment fallen die Würfel der Vergangenheit, jeden Moment werden die Würfel der Zukunft geworfen. Das Würfelspiel hat seine Regeln, doch wie die Würfel fallen, bleibt Zufall. Gott greift nicht ein. Doch für Gott gehört dieses Würfelspiel zur Schöpfung dieses Universums. Denn es ist die Weisheit, die es in seiner Gegenwart spielt, jene Weisheit, die Gott am Anfang seines Wegs geschaffen hat, vor seinen anderen Werken, vor aller Zeit. Sie spielt es jeden Moment. Schon bevor Gott die Erde geschaffen hatte, spielte sie es, ja noch bevor es überhaupt etwas gab und die Zeit entstanden war. Gott stand sie als Werkmeisterin bei der Schöpfung des Universums zur Seite, war ihm Tag für Tag eine Freude, allezeit spielte sie es. Und sie spielt es bis in alle Ewigkeit. Gott liebt sie und lässt sie spielen, im ganzen Universum und zum Segen aller, die sich auf ihr Spiel einlassen. Die Regeln dieses Würfelspiels und der Zufall, der im eigen ist, geben sich die Hand. Gott ist frei von beidem. Gott ist weder dieses noch jenes, doch in beidem mit seiner Liebe und Weisheit bedingungslos gegenwärtig.

Die Sprüche des Alte Testaments inspirieren zu diesem Verständnis des Universums. Sie erzählen von genau jener Weisheit, die vor Gott spielt, während Gott die Welt erschafft (Spr 8,22-31). Diese alte Weisheit hat heute hat unerwartete Aktualität erhalten. Das trotzige Diktum Albert Einsteins „Gott würfelt nicht“ spiegelt es. Niels Bohr, dem er es zugeworfen hat, soll ihm geantwortet haben, er solle doch aufhören, Gott Vorschriften zu machen, wie er die Welt regieren soll. Was für Einstein unerträglich ist, ist für den Quantenphysiker Bohr eine Selbstverständlichkeit: dass es Wahrscheinlichkeitsfelder gibt, also fliegende Würfel, die erst im Moment der Beobachtung ihr zufälliges Ergebnis annehmen. Das Ergebnis ist nicht Willkür, die Würfel unterliegen ihren Gesetzen. Fliegende Würfel aber sind zunächst virtuell. Wirklichkeit ist, jedenfalls nach dieser Deutung, was im Moment beobachtet wird, in dem sie fallen. Was das ist, ist stets Zufall. Beides, Spielregeln und Zufall, definieren das Würfelspiel, das in diesem Universum stattfindet.

In dieser postchristlichen Zeit könnte ein Verständnis dieser spielenden Weisheit von Interesse sein. Es entlarvt die Vorstellung eines allmächtigen, allwissenden Gottes, der alles in seinen Händen hält und zu einem guten Ergebnis führt, als patriarchales oder mindestens paternalistisches Wunschdenken. Der Abschied von dieser Projektion wird zur Selbstverständlichkeit. Zugleich aber weiss es um den Segen, der in der Gegenwart Gottes steckt. Das Wahrscheinlichkeitsspiel der Weisheit, als das dieses Universum in der Gegenwart Gottes geschieht, schafft mit seinen festen Gesetzen den Rahmen, doch der Spielverlauf bleibt vom Zufall bestimmt. Die Verkettung von Ursache und Folge stellt es nicht in Frage, aber es anerkennt die prinzipielle Unschärfe, die auf keine Art und Weise beseitigt werden kann, und die Restunsicherheit komplexer Prozesse. Glück und Pech gehören zum Spiel. Bin ich in der Gegenwart Gottes, führt mich ihre Liebe in das grosse Würfelspiel der Weisheit ein und fordert mich zum Mitspielen auf: anzuerkennen, wie die Würfel fallen und sie mit Freude und frei von Wertungen erneut zu werfen.[1]

Ein solcher Glaube entspricht zwar alter Weisheit. Aber er wird bis zum heutigen Tag immer wieder durch andere Vorstellungen, etwa durch patriarchale oder paternalistische Illusionen, überdeckt und beiseite gewischt. Geben wir ihm doch eine Chance! Unser Predigttext zeigt uns den Weg.

Er erzählt von der ersten grossen Mission, die Barnabas und Saulus unternehmen. Ihm voraus geht die Erzählung, wie die beiden von der Gemeinde in Antiochia dazu beauftragt werden (Apg 13,1-3). Sie haben sich als Team bewährt und viel zum Aufbau der Gemeinde beitragen (Apg 11,25f). Nun sind sie zu ihrer ersten grossen Aufgabe ausgesandt.

An dieser Stelle setzt unser Predigttext ein. Festgehalten wird zunächst ihre Reiseroute (V4f). Ausgesandt vom heiligen Geist ziehen sie in die etwa 25km entfernte Hafenstadt Seleuzia. Von dort segeln sie hinüber nach Zypern. In Salamis, ganz im Osten der Insel, gehen sie an Land und suchen die Synagoge auf. Dort verkünden sie zuerst den Juden das Wort Gottes, bevor sie sich auch den Heiden zuwenden. Die Synagoge ist eine geeignete Rekrutierungsbasis. Zu ihrer Unterstützung haben sie Johannes Markus bei sich (vgl. Apg 12,12.25).

Erzählt wird nun, dass sie die ganze Insel bis zur Hafen- und Residenzstadt Paphos im südwestlichen Zipfel durchziehen und dabei auf einen Magier, einen jüdischen Pseudopropheten, treffen (V6). Der Text lässt keine Zweifel, dass er ebenso aus jüdischer, wie christlicher Perspektive disqualifiziert ist. Immerhin wird sein Name genannt: Barjesus, Sohn des Jesus. Doch dieser Barjesus hat ein prominentes soziales Umfeld (V7). Er gehört nämlich zum Gefolge des römischen Prokonsuls Sergius Paulus, der als verständiger Mann beschrieben wird. Sergius Paulus hört von Barnabas und Saulus, lässt sie rufen und wünscht, von ihnen das Wort Gottes zu hören. Doch da kommt es zum Konflikt (V8-11).

Denn der Magier – jetzt wird er Elymas genannt, was sein griechischer Name sein soll – tritt dazwischen und versucht, den Prokonsul vom Glauben abzuhalten. Saulus ist also gefordert, sich auf seiner ersten grossen Mission als Vertreter des christlichen Glaubens zu bewähren. Unser Predigttext markiert diesen Moment, indem er festhält, dass Saulus auch Paulus genannt wird. In der Folge spricht die Apostelgeschichte nicht mehr von Saulus, sondern konsequent von Paulus. Paulus, erfüllt von heiligem Geist, fasst seinen Konkurrenten ins Auge und kritisiert ihn scharf. Er wirft ihm vor, er sei voller List und Tücke, der Sohn des Teufels und Feind aller Gerechtigkeit. Für ihn ist klar, dass sich Barjesus beim Prokonsul eingeschmeichelt hat, auf dessen Gunst aus ist und nicht aufrichtig für Gott einsteht. Er fordert ihn deshalb auf, damit aufzuhören, die geraden Wege Gottes zu verdrehen. Denn nun bekomme er die Folgen seines Tuns zu spüren. Die Weisheit des Alten Testament hat es bereits beobachtet: Der törichte Schwätzer kommt zu Fall, und wer krumme Wege geht, wird ertappt (Spr 10,8b.9b). Barjesus erfährt dies nun am eigenen Leib. Paulus macht ihm klar, dass die Hand Gottes über ihn kommt, dass er für eine gewisse Zeit erblinden und die Sonne nicht mehr sehen werde. Die Dunkelheit, die er mit seiner Unaufrichtigkeit verbreitet hat, soll ihn selbst einholen. Allerdings nur für eine gewisse Zeit. Er soll die Chance haben, seinen Fehler zu erkennen, umzukehren und das Licht wieder zu sehen. Was ihm Paulus ankündigt, tritt sogleich ein. Auf der Stelle fällt Dunkelheit und Finsternis über ihn. Er tastet umher und sucht Leute, die ihn führen. Als Berater im Gefolge des Prokonsuls hat Barjesus damit ausgedient.

Die Geschichte endet damit, dass nicht Paulus in Blick kommt, sondern der Prokonsul (V12). Als dieser nämlich sieht, was geschieht, kommt er zum Glauben, überwältigt von der Lehre Gottes. Das Ergebnis des Konflikts mag wahrscheinlich gewesen sein, doch erst im Moment, in dem die Würfel fallen, ist er überzeugt. Die Weisheit lobt den Tag nicht vor dem Abend. Sie kennt ihr Spiel mit Gesetz und Zufall. Auch Paulus hat in diesem Konflikt Glück. Bald holt ihn jedoch das Pech ein. Er wird verjagt (Apg 13,50) und gesteinigt (Apg 14,19). Aber die Gegenwart Gottes verankert ihn in jener Liebe und Weisheit, die jeden Moment spielt, wie auch immer die Würfel gerade liegen. Den Prokonsul hat genau diese bedingungslose Präsenz überzeugt.

Die Besinnung auf diese Geschichte am heutigen Tag ermutigt uns, über jenes grosse Würfelspiel nachzudenken, als das dieses Universum in der Gegenwart Gottes jeden Moment geschieht. Das Beispiel, in welchem es sich in unserem Predigttext konkret manifestiert, ist ein Konflikt zwischen zwei Menschen. Versuchen wir, das Spiel in diesem Konflikt zu verstehen!

Die Grundlage dieses Spiels ist die bedingungslose, ganz und gar wertfreie Gegenwart von Gottes Liebe und Weisheit. In der Gegenwart Gottes gibt es keine Manipulation des Würfelspiels, kein Gut und Böse, kein erwünschtes oder unerwünschtes Ergebnis. Die Würfel fallen, die Würfel werden wieder geworfen. Das Spiel geschieht, wie es geschieht. Paulus ist in der Gegenwart Gottes von Moral und politischer Korrektheit befreit. Sie gibt ihm Durchblick im Konflikt und Mut, unbefangen zu sagen, was Sache ist. In der Gegenwart Gottes lösen sich Verstrickungen und Blockaden auf. Das Problem kann isoliert und treffsicher angegangen werden. Ganz von selbst ist plötzlich die Lösung da. Es ist nicht der Lärm der Gedanken, der die Musik macht. Musik entsteht erst, wenn die Mühe abfällt und das Spiel beginnt. Vielleicht ist viel Übung nötig, um zu dieser Einfachheit zu gelangen, vielleicht braucht es Jahre, um das alte Gerümpel aus dem Weg zu räumen. Doch die Gegenwart Gottes ist ständig gegenwärtig. Ich kann hier und jetzt in ihr Spiel einsteigen.

Dazu gehört freilich die Offenheit für das Spiel mit dem Zufall. Das Würfelspiel macht es augenfällig: Ohne Zufall, kein Spiel. Das zeigt sich in Fussball, Musik oder eben einem Konflikt. Einiges kann ich bestimmen, vieles ist dem Moment überlassen. Paulus wird völlig zufällig in den Konflikt mit Barjesus geworfen. Er lässt sich darauf ein, erkennt seine Chance und setzt auf sein Glück. Der Erfolg gibt ihm recht. Doch Sicherheit, ob er recht hat, hat auch er keine. Auch von aussen betrachtet, ist das Spiel ergebnisoffen. Der Prokonsul Sergius Paulus mag Erwartungen gehabt haben, aber erst als die Würfel fallen, ist er überzeugt. Er gehört damit zum Spiel. Auch als Beobachter spielt er, indem er beobachtet, hier und jetzt mit. Ein Spiel umfasst alles, was gerade geschieht. Strategie und Taktik, also eine gewisse Aussenperspektive, gehören je nach Spiel auch dazu. Ein Spiel aber geschieht im Moment, zufällig, nicht linear. Nehme ich einen Konflikt spielerisch, bleibe ich selbstverantwortlich für mein Tun hier und jetzt. Die Kontrolle über den Spielverlauf habe ich nicht. Sie ist weder möglich noch nötig. Denn die Gegenwart der Liebe und Weisheit Gottes ist der Moment, ernsthaft und doch mit Humor ins Spiel einzusteigen. Wie könnte dies in einem Konflikt nicht hilfreich sein!

Zum Spiel gehört der Zufall, zum Spiel gehört aber ebenso seine Verlässlichkeit. Das Wahrscheinlichkeitsfeld, in dem es geschieht, bildet den Rahmen. Darin aber folgt es seinen Regeln. Wer die Regeln bricht, wird zum Spielverderber und hört auf zu spielen. Doch in der Gegenwart Gottes geht das Spiel in diesem Universum jeden Moment weiter. Ohne Willkür, sondern als geregeltes Spiel der Weisheit, das Gott liebt. Paulus durchschaut Barjesus und versteht das Spiel, in das er in diesem Konflikt geworfen ist. Er rechnet deshalb damit, dass er mit seinem Vorgehen Erfolg haben dürfte. Barjesus hingegen muss die Konsequenzen seiner Spielverweigerung tragen. Ihm bleibt die Chance, umzukehren, sich mit den Regeln des Spiels vertraut zu machen und ins Spiel einzusteigen. Mein Verhalten hat stets Auswirkungen. Die Gesetze der Natur gelten. Doch das Spiel funktioniert nicht wie eine Maschine. Wie die Gegenwart Gottes konkret geschieht, ist ein Wahrscheinlichkeitsereignis. Will ich mitspielen, lasse ich mich von Gottes Liebe zu diesem Spiel der Weisheit leiten, beachte die Risikofaktoren und packe meine Chance. Garantie auf Erfolg habe ich keine, aber Grund genug, im Vertrauen auf die Kraft der Gegenwart Gottes mein Glück zu versuchen.

Die Gegenwart Gottes mit ihrer Liebe zum Würfelspiel der Weisheit schafft bedingungslose Freiheit und Spielfreude. Sie lehrt spielen, sie lehrt gewinnen, und sie lehrt verlieren. Die Mystik der Gegenwart Gottes weiht in beides ein, in Erfolg und Misserfolg, Glück und Pech. In ihrer Mitte aber bleibt die Kraft ihrer bedingungslosen Präsenz (vgl. Phil 4,12f). Ein solcher spielerischer Glaube ist Lebenskunst und in postchristlicher Zeit ein Segen. Er schafft Leichtigkeit im Ernst und Heiterkeit im Leid. Beten wir deshalb, dass wir von der Gegenwart Gottes durchdrungen werden und mit Liebe im Spiel der Weisheit mitspielen. Amen.

[1] Benz, Arnold / Vollenweider, Samuel (2015): Würfelt Gott? Was Physik und Theologie einander zu sagen haben, Verlagsgemeinschaft Topos: Kevelaer, 134-146, bietet eine inspirierende Diskussion des Themas.

Predigt vom 25. August 2024 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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