Der Zauber und Gottes Sorgsamkeit

Der Zauber und Gottes Sorgsamkeit

O ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, denen [doch] Jesus Christus
als Gekreuzigter vor Augen gemalt worden ist ?
Gal 3,1

Liebe Gemeinde
Wer hat euch bezaubert, denen [doch] Jesus Christus als Gekreuzigter vor Augen
gemalt worden ist ? Dieses harte Wort von Paulus ist eine rhetorische Frage.
Gesprochen ist es mit Zorn und Verzweiflung gegenüber der Gemeinde in Galatien,
und es lässt keinen Zweifel, dass Paulus über diese sehr enttäuscht ist. Es ist ein
konfrontierendes Wort, das zum klaren Sehen aufrütteln und zum Durchschauen von
Verirrungen drängen will. Wenn wir uns jetzt diesem Wort aussetzen, werden wir uns
darauf einstellen müssen, uns etwas Kritisches sagen zu lassen.

Worum geht es ? Um den Rückfall ins alte Muster. Paulus hatte die frohe Botschaft
in Galatien früher erfolgreich verkündet. Er fand Menschen, die er davon überzeugen
konnte, dass man sich die Gnade Gottes nicht durch frommes Tun erarbeiten oder
durch guten Taten plausibel machen kann, sondern dass man sie nur erfährt, wenn
man sich von ihr tragen lässt. Die Menschen der Gemeinde in Galatien hatten
verstanden, dass man sich ebenso, wie man erst merkt, dass der Fluss das Boot
trägt, in dem man sitzt, wenn man sich mit ihm aufs Wasser wagt, auch im Glauben
von der Gnade Gottes tragen lassen muss, um zu merken, dass sie trägt. Aber
anstatt diesem Glauben treu zu bleiben und darum zu ringen, ihn immer tiefer zu
verstehen, wendeten sich die Galater vom Glauben ab, fielen ins alte Muster zurück
und begannen erneut damit, sich auf das Tun von frommen Werken zu verlassen.
Das ist das, was Paulus über die Galater dermassen empört und zur verzweifelten
Frage veranlasst, was sie so bezaubert habe.

Bezaubert ist ein starker Ausdruck. Paulus unterstellt den Galatern mit diesem Wort,
dass sie den realistischen Kontakt zur Wirklichkeit, den sie doch einmal hatten,
wieder verloren haben und jetzt statt dessen in einer „magischen Zauberwelt“ leben,
durch welche die Wirklichkeit verzerrt und manipuliert erscheint. Es ist aber auch ein
Wort, das deutlich macht, dass sich Paulus genau daran stösst. Er protestiert nicht
dagegen, dass die Galater seiner Botschaft untreu geworden sind. Er wirft ihnen
weder Ungehorsam noch fehlende Ergebenheit vor. Es ist nicht so, dass er sich
daran stösst, dass sie, die sie ihm einmal zugetan waren, sich von ihm emanzipiert
haben und eine eigene Meinung und Selbständigkeit beanspruchen. Das ist alles
nicht der Punkt. Es geht Paulus nicht um die persönliche Kränkung, dass die Galater
von seiner Botschaft abgefallen sind. Sein Zorn besteht vielmehr darin, dass sie,
deren klarer Blick für die Wirklichkeit einmal erwacht war, sich diesen wieder trüben
und verwirren liessen. Es ist der gestörte Bezug zur Wirklichkeit, der Paulus an den
Galatern kritisiert. Nichts weniger als das. Deshalb kommt er dazu, ihnen
vorzuwerfen, dass sie sich bezaubern liessen.

Wer hat euch bezaubert, denen [doch] Jesus Christus als Gekreuzigter vor Augen
gemalt worden ist ? Das Kriterium, das Paulus zu seiner Kritik motiviert, ist, dass die
Galater Jesus Christus als Gekreuzigten vor Augen gemalt bekommen und – wird
man schliessen können – als solchen „gesehen“ haben. Das Bild des Gekreuzigten
ist es also, das, wenn es einmal gesehen und erkannt worden ist, für Paulus den
klaren Blick für die Wirklichkeit zum Erwachen bringt. Entsprechend kann er deshalb
sagen, dass derjenige bezaubert ist, dessen Blick für dieses Bild getrübt oder gar
verloren ist. Der Blick für das Bild des Gekreuzigten ist gleichsam das Mass, an dem
die Realitätsbezogenheit der Glaubenden gemessen wird, die Richtschnur, die
darüber entscheidet, ob man in der Wirklichkeit lebt, wie sie ist, oder ob man
bezaubert ist und in einer Zauberwelt lebt.

Spätestens jetzt sind wir vor die Frage gestellt, ob wir Paulus in dieser Behauptung
folgen wollen oder nicht. Immerhin ist sein Anspruch, ein Kriterium zum Messen der
Realitätsbezogenheit der Glaubenden geben zu können, nicht gerade bescheiden.
Und wir heute, die wir für die katastrophalen Auswirkungen sensibilisiert sind, die
fundamentalistische Ansprüche haben können, werden Paulus hier ohne Zögern
folgen wollen. Wie also steht es um den Blick für das Bild des Gekreuzigten als
Kriterium, an dem sich unsere Realitätsbezogenheit messen lässt ?

Man muss einen exklusiven und einen inklusiven Blick unterscheiden. Der exklusive
Blick richtet sich ausschliesslich auf den Gekreuzigten und geht davon aus, dass nur
der, der diesen sieht, die Realität sieht wie sie ist. Es ist dies der Blick, der auf das
Bild des Gekreuzigten fixiert ist, dieses als exklusiven Zugang zu Gott versteht und
davon ausgeht, dass das Bild des Gekreuzigten das Mass aller Dinge ist. Ein solcher
Blick ist fundamentalistisch und entspricht nicht der paulinischen Botschaft, dass die
Gnade Gottes ohne jede Bedingung, also auch ohne unser Festhalten des
Gekreuzigten, gegenwärtig ist.

Der inklusive Blick sieht demgegenüber im Bild des Gekreuzigten die Gnade
Gottes wie sie in der ganzen Schöpfung und in der ganzen Geschichte am Werk ist.
Er sieht, dass der Gekreuzigte ein Zeichen für etwas Universales ist, eine
Offenbarung, die immer und immer wieder geschah, geschieht und geschehen wird,
ein Ereignis also, das etwas von der Wahrheit zeigt, durch welche die Wirklichkeit
das wird, was sie ist. Wenn man das Bild des Gekreuzigten so sieht, dann beginnt
man zu sehen, dass die ganze Welt in der Gnade Gottes geborgen ist bzw.
umgekehrt, dass die Gnade Gottes in der ganzen Welt zu sehen ist. Ein solcher Blick
auf den Gekreuzigten ist in keiner Weise fundamentalistisch, sondern selber
Ausdruck der göttlichen Gnade.

Wer hat euch bezaubert, denen [doch] Jesus Christus als Gekreuzigter vor Augen
gemalt worden ist ? Es ist nicht so einfach, im Blick auf den Gekreuzigten die
universale Gegenwart der Gnade Gottes zu sehen. Zu schmerzvoll ist dieses Bild, zu
ungerecht, zu hässlich. Wir neigen rasch dazu, im Angesichts des Leides, das es
zum Ausdruck bringt, alles andere als die Gnade Gottes zu sehen und den Blick vom
Gekreuzigten abzuwenden. Und genauso rasch, wie wir diesen Blick abwenden,
lassen wir uns von all dem Schönem bezaubern, das uns das Leiden angenehmer zu
machen verspricht. Das ist menschlich und noch so gut verständlich. Ich will dies gar
nicht bestreiten. Und doch tut man gut daran, die strenge Kritik, die Paulus diesem
Verhalten gegenüber erhebt, nicht leichtfertig in den Wind zu schlagen. Nicht aus
Angst vor Strafe, sondern um der Gnade und ihrer Schönheit willen.

Die Universalität der Gnade ist keine Illusion. Ich sage dies gerade auch im Blick auf
den Gekreuzigten und die Vielen, die wie dieser gelitten haben und leiden ! Die
Universalität der Gnade ist die Erfahrung, trotz allem, was geschieht, durch die
unbedingte Sorge Gottes wie von einem grossen Vater beschützt und in einer
grossen Mutter gehalten zu werden. Gott ist mehr als Väterlichkeit und Mütterlichkeit.
Gott ist die Sorge, die sich uns väterlich und mütterlich zuwendet und konkret wird,
wenn wir sie in unserem Umgang mit andern Menschen, unserer Umwelt und uns
selber sorgsam praktizieren. Im sorgsamen Tun wird die Universalität der Gnade
Gottes ständig, hier und jetzt, geübt, erlebt und erlebbar gemacht, ohne dass
Wunder geschehen müssen oder die Wirklichkeit bezaubert wird. Es ist die kleine
Übung des Glaubens, die als solche Wunder genug ist und die Wirklichkeit mit dem
Zauber ihrer Schönheit erleuchtet. Wo die Gnade Gottes im sorgsamen Tun von
Menschen konkret wird, werden Freude und Liebe selbst im Leiden spürbar.

Paulus war mit seinem kritischen Wort sehr streng mit den Galatern, und auch uns
mag es streng vorkommen, wenn wir uns mit der Forderung konfrontiert sehen, uns
von all dem, was uns so wunderbar bezaubert, trennen zu sollen. Wie gerne hält sich
doch die Sehnsucht an der Bezauberung fest ! Und doch ist diese Strenge nichts als
Gnade. Denn sie führt uns über unsere kleine Zauberwelt hinaus und leitet uns in die
Schönheit der universalen Gnade, die wir in jedem Moment, hier und jetzt, in
unserem sorgsamen Handeln erleben und gestalten können. Beten wir deshalb, dass
Gott uns die Augen für den Gekreuzigten öffnet und wir lernen, seine sorgende
Gnade in unserer Sorgsamkeit zur Geltung zu bringen. Amen.

Predigt vom 12. März 2006 in Wabern
Bernhard Neuenschwander

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